Die Brooklyn-Revue
geschehen.
Meine Idee war folgende: Ich wollte eine Gesellschaft gründen, die Bücher über die Vergessenen herausbringen sollte; ich wollte ihre Geschichten, Fakten und Dokumente sichern, ehe sie verschwinden konnten, und sie zu einer zusammenhängenden Erzählung bündeln, zur Darstellung eines Lebens.
Freunde und Verwandte des Betroffenen gäben die Biographien in Auftrag, und die Bücher erschienen in kleinen privaten Auflagen von fünfzig bis drei- oder vierhundert Exemplaren. Ich stellte mir vor, diese Bücher selbst zu schreiben, aber falls die Nachfrage zu stark werden sollte, konnte ich immer noch zusätzliche Mitarbeiter anheuern: erfolglose Dichter und Schriftsteller, ehemalige Journalisten, arbeitslose Akademiker, vielleicht sogar Tom. Es würde einiges kosten, diese Bücher zu schreiben und drucken zu lassen, aber meine Biographien sollten nicht nur für die Reichen erschwinglich sein. Für weniger bemittelte Familien ersann ich eine neue Art von Versicherung, in die jeden Monat oder jedes Quartal ein bestimmter geringfügiger Betrag einzuzahlen war, sodass sie am Ende die Kosten des Buches tragen würde. Keine Hausrat- oder Lebensversicherung – sondern eine Biographieversicherung.
War ich verrückt, davon zu träumen, dass aus einem solchen, an den Haaren herbeigezogenen Projekt etwas werden könnte? Ich glaube nicht. Welche junge Frau würde nicht gern die definitive Biographie ihres Vaters lesen – selbst wenn dieser Vater bloß Fabrikarbeiter oder stellvertretenderDirektor einer Bankfiliale auf dem Land gewesen war? Welche Mutter würde nicht gern die Lebensgeschichte ihres Sohnes lesen, der als Polizist mit vierunddreißig Jahren im Dienst erschossen wurde? In jedem Fall würde es um Liebe gehen. Eine Ehefrau oder ein Ehemann, ein Sohn oder eine Tochter, Vater, Mutter, Bruder oder Schwester – nur die stärksten Bindungen kämen in Frage. Sechs Monate oder ein Jahr nach dem Tod des geliebten Menschen würden sie zu mir kommen. Inzwischen hätten sie den Verlust verarbeitet, wären aber noch nicht ganz darüber hinweg, und nun, da für sie wieder der Alltag eingekehrt wäre, gelangten sie zu der Erkenntnis, dass sie niemals darüber hinwegkommen würden. Sie würden den geliebten Menschen ins Leben zurückholen wollen, und ich würde mir jede erdenkliche Mühe geben, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Ich würde diese Person in Worten wiederauferstehen lassen, und wenn das Buch gedruckt und die Geschichte in einen festen Einband gebunden wäre, hätten sie etwas in der Hand, woran sie ihr Leben lang festhalten konnten. Und nicht nur das, sondern auch etwas, das sie überleben würde, das uns alle überleben würde.
Man sollte die Macht von Büchern nie unterschätzen.
EX IST DAS ENTSCHEIDENDE
D ie Ergebnisse der abschließenden Blutuntersuchung kamen kurz nach Mitternacht. Da es zu spät war, mich aus dem Krankenhaus zu entlassen, blieb ich bis zum nächsten Morgen und beschäftigte mich, während ich den vor Erschöpfung im Bett neben mir eingeschlafenen Javier Rodriguez beobachtete, fieberhaft mit Detailplanungen für mein neues Unternehmen. Ich wälzte verschiedene Namen hin und her, die den Geist der vor mir liegenden Arbeit ausdrücken sollten, und entschied mich am Ende für das neutrale, aber anschauliche
Bios
. Etwa eine Stunde später stand mein Entschluss fest, als Erstes mit Bette Dombrowski in Chicago Kontakt aufzunehmen und sie zu fragen, ob sie mir nicht den Auftrag erteilen wolle, die Biographie ihres Exmannes zu schreiben. Es schien mir angemessen, dass das erste Buch der Sammlung von Harry handeln sollte.
Dann ließen sie mich gehen. Als ich in die kühle Morgenluft hinaustrat, war ich so froh, am Leben zu sein, dass ich hätte schreien mögen. Der Himmel über mir war vom allerreinsten, tiefsten Blau. Wenn ich schnell genug ging, würde ich es zur Carroll Street schaffen, ehe Joyce zur Arbeit musste. Wir würden uns in die Küche setzen, zusammen eine Tasse Kaffee trinken und zusehen, wie die Kinder umherwuselten, während ihre Mütter sie für die Schule zurechtmachten. Dann würde ich Joyce zur U-Bahn begleiten, sie in die Arme nehmen und mich mit einem Kuss von ihr verabschieden.
Es war acht Uhr, als ich auf die Straße trat, acht Uhr am Morgen des 11. September 2001 – sechsundvierzig Minuten bevor das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Center raste. Nur zwei Stunden später trieb der Rauch von dreitausend verbrannten Leibern auf Brooklyn zu und
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