Die Brüder Karamasow
viele im Jahr. Pereswon lief in der vergnügtesten Stimmung mit, bog jedoch unaufhörlich nach rechts und links ab, um irgendwo an etwas zu riechen. Begegnete er anderen Hunden, beschnüffelte er sich mit ihnen nach allen Regeln der Hunde-Etikette.
»Ich beobachte gern das wirkliche Leben, Smurow«, begann Kolja plötzlich. »Hast du bemerkt, wie die Hunde sich beriechen, wenn sie einander begegnen? Dem liegt ein allgemeines Naturgesetz zugrunde.«
»Ja, ein lächerliches.«
»Lächerlich ist es eigentlich nicht, da hast du unrecht. In der Natur gibt es nichts Lächerliches, wenn es dem Menschen mit seinen Vorurteilen auch so scheinen mag. Könnten die Hunde philosophieren und kritisieren, dann würden sie in den gegenseitigen sozialen Beziehungen ihrer Gebieter, der Menschen, sicher ebensoviel finden, was ihnen lächerlich erscheint, wenn nicht weit mehr. Wenn nicht weit mehr, ich wiederhole das, weil ich fest überzeugt bin, daß die Dummheiten bei uns weit zahlreicher sind. Das ist ein Gedanke von Rakitin, ein beachtenswerter Gedanke. Ich bin Sozialist, Smurow.«
»Was ist das, Sozialist;« fragte Smurow.
»Das ist, wenn alle gleich sind und alle dieselbe Meinung haben, wenn es keine Ehre gibt und die Religion und alle Gesetze so sind, wie es jedem beliebt – na und anderes mehr. Du bist noch nicht alt genug, für dich ist das noch zu früh ... Oh, es ist aber kalt!«
»Ja, zwölf Grad. Mein Vater hat vorhin nach dem Thermometer gesehen.«
»Hast du schon bemerkt, Smurow, daß es einem mitten im Winter, bei fünfzehn oder gar achtzehn Grad, nicht so kalt vorkommt wie zum Beispiel jetzt zu Anfang des Winters, wenn plötzlich die Kälte einsetzt wie jetzt mit zwölf Grad und wenn noch wenig Schnee gefallen ist? Das kommt daher, daß sich die Menschen noch nicht daran gewöhnt haben. Bei den Menschen ist alles Gewohnheitssache, in jeder Hinsicht, sogar in ihren staatlichen und politischen Beziehungen. Die Gewohnheit ist die wichtigste Triebkraft ... Was ist denn das für ein komischer Bauer?«
Kolja zeigte auf einen hochgewachsenen Bauern mit gutmütigem Gesicht, der in einem Schafpelz neben seiner Fuhre stand und seine in Fausthandschuhen steckenden Hände aneinanderschlug, um sich zu erwärmen. Sein langer blonder Bart war von der Kälte ganz bereift.
»Dem Bauern ist der Bart gefroren!« sagte Kolja tiefsinnig mit lauter Stimme, als sie an ihm vorbeigingen.
»Das ist heute vielen passiert«, antwortete der Bauer ruhig und bedächtig.
»Zieh ihn bloß nicht auf!« bemerkte Smurow.
»Das tut nichts, er wird es nicht übelnehmen, er ist ein guter Mensch. Lebe wohl, Matwej!«
»Lebe wohl!«
»Heißt du denn Matwej?«
»Ja. Hast du das nicht gewußt?«
»Nein, ich hab es aufs Geratewohl gesagt.«
»Na, sieh mal an! Du bist wohl Schüler?«
»Ja.«
»Kriegst du auch Prügel?«
»Nicht allzuviel, nur manchmal.«
»Tut das weh?«
»Ohne das geht es nicht!«
»Ja, ja, so ist es im Leben!« seufzte der Bauer aus tiefstem Herzen.
»Lebe wohl, Matwej!«
»Lebe wohl! Du bist ein liebes Kerlchen, jawohl.« Die Jungen gingen weiter.
»Der war freundlich«, sagte Kolja zu Smurow. »Ich rede gern mit einfachen Leuten, und es macht mir immer Freude, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«
»Warum hast du ihm vorgelogen, daß bei uns geschlagen wird?« fragte Smurow.
»Ich mußte ihm doch ein Vergnügen machen.«
»Inwiefern denn?«
»Siehst du, Smurow, ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand nicht gleich versteht und Fragen stellt. Manches kann man einfach nicht klarmachen. Nach Meinung des Bauern bekommt ein Schüler Schläge und muß Schläge bekommen. Was wäre das für ein Schüler, der keine Schläge bekommt, denkt er. Und wenn ich ihm nun auf einmal sage, daß bei uns nicht geschlagen wird, würde ihn das betrüben. Aber du hast dafür kein Verständnis. Man muß es verstehen, mit den einfachen Leuten zu reden.«
»Fang bloß keinen Streit an, sonst kommt am Ende wieder so eine Geschichte heraus wie damals mit der Gans.«
»Hast du Angst?«
»Lach mich nicht aus, Kolja, aber ich habe wirklich Angst. Mein Vater wäre furchtbar böse. Er hat mir streng verboten, mit dir zu gehen.«
»Keine Sorge, diesmal wird nichts passieren ... Guten Tag, Natascha«, rief er einer Händlerin zu, die unter ihrer Markise saß.
»Wie kannst du mich denn Natascha nennen? Ich heiße Marja! schrie die Händlerin, eine ziemlich junge Frau, ärgerlich zurück.
»Das ist schön, daß du Marja heißt. Lebe
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