Die Brüder Löwenherz
über Nangilimas Tälern leuchten, denn dort ist jetzt Morgen.«
»Dann könnten wir also geradewegs nach Nangilima hineinspringen«, sagte ich und lachte dabei zum erstenmal seit langem.
»Das könnten wir«, sagte Jonathan. »Und kaum sind wir dort, sehen wir auch schon vor uns den Pfad zum Apfeltal. Und da stehen Grim und Fjalar bereit und warten auf uns. Wir brauchen uns nur in den Sattel zu schwingen und loszutraben.«
»Und du bist dann nicht mehr gelähmt?« fragte ich.
»Nein, dann bin ich frei von allem Übel und so froh wie noch nie. Und du auch, Krümel, auch du bist dann froh. Der Weg zum Apfeltal führt durch den Wald, und wie wird uns, dir und mir, zumute sein, wenn wir dort in der Morgensonne reiten, was meinst du?«
»Herrlich«, rief ich und lachte wieder.
»Und wir müssen uns nicht beeilen«, sagte Jonathan.
»Wenn wir Lust haben, können wir unterwegs in einem kleinen See baden. Wir kommen trotzdem im Apfeltal an, bevor Matthias die Suppe fertig hat.«
»Wie er sich freuen wird, wenn wir kommen«, sagte ich. Doch dann traf es mich wie ein Keulenschlag. Grim und Fjalar, wie sollten wir sie mit nach Nangilima bekommen, wie stellte Jonathan sich das vor?
»Wie kannst du nur sagen, daß sie dort schon auf uns warten? Sie liegen ja da drüben und schlafen.«
»Sie schlafen nicht, Krümel! Sie sind tot. Durch Katlas Feuer. Was du da drüben siehst, ist nur ihre äußere Hülle. Glaub mir, Grim und Fjalar stehen schon am Weg zum Apfeltal und warten auf uns.«
»Dann wollen wir uns beeilen«, sagte ich, »damit sie nicht so lange warten müssen.«
Jonathan sah mich an und lächelte.
»Ich kann mich kein bißchen beeilen«, sagte er.
»Ich komme ja nicht vom Fleck. Hast du das vergessen?«
Und da begriff ich, was ich zu tun hatte.
»Jonathan, ich nehme dich auf den Rücken«, sagte ich.
»Du hast es einmal für mich getan. Und jetzt tue ich es für dich. Das ist nur gerecht.«
»Ja, es ist nicht mehr als gerecht«, sagte Jonathan. »Aber traust du es dir wirklich zu, Krümel Löwenherz?«
Ich ging an den Rand des Abgrunds und sah hinunter. Doch es war schon zu dunkel, die Wiese war kaum noch zu sehen. Nur eine Tiefe, die einen schwindelig werden ließ. Sprangen wir da hinab, dann stand jedenfalls fest, daß wir beide nach Nangilima kamen. Keiner mußte allein zurückbleiben und traurig sein und weinen und sich fürchten. Doch nicht wir sollten springen, ich sollte es tun. Es ist nicht leicht, nach Nangilima zu kommen, hatte Jonathan gesagt und erst jetzt verstand ich, weshalb. Würde ich es wagen, würde ich es jemals wagen? Ja, wenn du es jetzt nicht wagst, dachte ich, dann bist du ein Häuflein Dreck und wirst immer ein Häuflein Dreck bleiben. Ich ging zurück zu Jonathan.
»Ja, ich trau es mir zu«, sagte ich.
»Mutiger kleiner Krümel«, sagte er. »Dann tun wir es jetzt gleich.«
»Erst möchte ich noch eine Weile bei dir sitzen«, bat ich.
»Aber nicht zu lange«, sagte Jonathan.
»Nein, nur bis es stockfinster ist«, sagte ich. »Damit ich nichts sehe.«
Und ich setzte mich neben ihn und hielt seine Hand und spürte, wie stark und gut er war und daß nichts wirklich gefährlich sein konnte, solange er da war. Dann fiel die Nacht mit ihrer Dunkelheit über Nangijala, über Berge und Fluß und Land. Und ich stand mit Jonathan am Abgrund. Ich trug ihn, er hatte die Arme fest um meinen Hals geschlungen, und ich spürte seinen Atem an meinem Ohr. Ganz ruhig atmete er. Nicht wie ich... Jonathan, mein Bruder, warum bin ich nicht ebenso mutig wie du? Ich sah die Tiefe unter mir nicht, doch ich wußte, daß sie da war. Und ich brauchte nur einen Schritt ins Dunkle zu tun, dann war alles vorüber. Es würde ganz schnell gehen.
»Krümel Löwenherz«, sagte Jonathan, »hast du Angst?«
»Nein ... doch, ich habe Angst! Aber ich tue es trotzdem, Jonathan, ich tue es jetzt... jetzt... Und dann werde ich nie wieder Angst haben. Nie wieder Angst ha ...«
»Oh, Nangilima! Ja, Jonathan, ich sehe das Licht! Ich sehe das Licht!
* * * *
E n d e
Astrid Lindgren Die Brüder Löwenherz Der neunjährige Karl Löwe, Krümel genannt, ist krank und weiß, daß er bald sterben muß. Um ihn zu trösten, erzählt ihm sein älterer, über alles geliebter Bruder Jonathan vom Lande Nangijala, in das man kommt, wenn man gestorben ist.
»In Nangijala wird es dir gefallen, denn dort ist noch die Zeit der Sagen und Lagerfeuer«, sagt Jonathan.
»Dort wirst du von früh bis
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