Die Brüder Löwenherz
1
Jetzt will ich von meinem Bruder erzählen, von ihm, Jonathan Löwenherz, will ich erzählen. es ist fast wie ein Märchen, finde ich, und ein klein wenig auch wie eine Gespenstergeschichte, und doch ist alles wahr. Aber das weiß keiner außer mir und Jonathan. Anfangs hieß Jonathan nicht Löwenherz. Er hieß mit Nachnamen Löwe, genau wie Mama und ich. Jonathan Löwe hieß er. Ich heiße Karl Löwe und Mama Sigrid Löwe. Papa hieß Axel Löwe, doch als ich zwei Jahre alt war, ging er weg von uns und fuhr zur See, und seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Aber ich wollte ja erzählen, wie es kam, daß mein Bruder Jonathan Löwenherz wurde. Und all das Seltsame, was dann geschah. Jonathan wußte, daß ich bald sterben würde. Ich glaube, alle wußten es, nur ich nicht. Sogar in der Schule wußten sie es, denn ich lag ja nur zu Hause, weil ich hustete und immer krank war. Das letzte halbe Jahr hatte ich überhaupt nicht mehr zur Schule gehen können. Alle Frauen, für die Mama Kleider näht, wußten es auch. Einmal redete eine mit ihr darüber, und obwohl es nicht beabsichtigt war, hörte ich es zufällig. Sie dachten, ich schliefe. Ich lag aber nur mit geschlossenen Augen da. Und das tat ich auch weiterhin, denn ich wollte mir nicht anmerken lassen, daß ich dieses Schreckliche gehört hatte - daß ich bald sterben würde. Natürlich wurde ich traurig und bekam furchtbare Angst, und das wollte ich Mama nicht zeigen. Aber als Jonathan nach Hause kam, erzählte ich es ihm.
»Weißt du, daß ich bald sterben muß?« fragte ich und weinte. Jonathan dachte ein Weilchen nach. Er antwortete mir wohl nicht gern, doch schließlich sagte er; »Ja, das weiß ich.«
Da weinte ich noch mehr.
»Wie kann es nur so was Schreckliches geben?« fragte ich.
»Wie kann es so etwas Schreckliches geben, daß manche sterben müssen, wenn sie noch nicht mal zehn Jahre alt sind?«
»Weißt du, Krümel, ich glaube nicht, daß es so schrecklich ist«, sagte Jonathan.
»Ich glaube, es wird herrlich für dich.«
»Herrlich?« sagte ich.
»Tot in der Erde liegen, das soll herrlich sein?!«
»Aber geh«, sagte Jonathan.
»Was da liegt, ist doch nur so etwas wie eine Schale von dir. Du selber fliegst ganz woandershin.«
»Wohin denn?« fragte ich, denn ich konnte ihm nicht recht glauben.
»Nach Nangijala«, antwortete er.
Nach Nangijala - das sagte er so einfach, als wüßte das jeder Mensch. Aber ich hatte noch nie etwas davon gehört.
»Nangijala«, sagte ich, »wo liegt denn das?«
Da sagte Jonathan, das wisse er auch nicht genau. Es liege irgendwo hinter den Sternen. Und er fing an, von Nangijala zu erzählen, so daß man fast Lust bekam, auf der Stelle hinzufliegen.
»Dort ist noch die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen«, sagte er »und das wird dir gefallen.«
Von dort, aus Nangijala, stammen alle Märchen und Sagen, sagte Jonathan, und dort gehe es auch noch zu wie in den Märchen. Wenn man dort hinkomme, erlebe man von früh bis spät und sogar nachts Abenteuer.
»Das ist etwas, Krümel!« sagte er.
»Das ist was anderes als im Bett liegen und husten und krank sein und nie spielen können. «
Einmal hatte eine von Mamas Kundinnen gesagt:
»Liebe Frau Löwe, Sie haben einen Sohn, der wie ein Märchenprinz aussieht!«
Und damit hatte sie nicht mich gemeint, das steht fest! Jonathan sah wirklich wie ein Märchenprinz aus. Sein Haar glänzte wie Gold, und er hatte schöne dunkelblaue Augen, die richtig leuchteten, und schöne weiße Zähne und ganz gerade Beine. Und nicht nur das. Er war auch gut und stark und konnte alles und verstand alles und war der Beste in seiner Klasse, und alle Kinder unten auf dem Hof hingen, wo er ging und stand, wie die Kletten an ihm, und er erfand Spiele für sie und zog mit ihnen auf Abenteuer aus. Ich konnte nie dabeisein, denn ich lag ja nur tagaus, tagein in der Küche auf meiner alten Schlafbank. Aber wenn Jonathan nach Hause kam, erzählte er mir alles, was er erlebt hatte, und all das, was er gesehen und gehört und gelesen hatte. Stundenlang konnte er bei mir auf der Bettkante sitzen und erzählen. Jonathan schlief auch in der Küche, aber auf einem Klappbett, das er abends aus der Abstellkammer holte. Und wenn er zu Bett gegangen war, erzählte er mir Märchen und Geschichten, bis Mama aus dem Zimmer rief:
»Jetzt ist aber Schluß! Karl muß schlafen.«
Aber wenn man husten muß, kann man nicht gut schlafen. Manchmal stand Jonathan mitten in der Nacht auf und
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