Die Buchmalerin
Reittier angewiesen war, denn so konnte er sich viel besser verbergen.
Erneut wanderte Rogers Blick zu der länglichen Rolle, die wie weggeworfen am verschneiten Ufer lag. Die Sackleinwand, die den Inhalt verhüllte, konnte ihn nicht täuschen. Er wusste, dass sich darunter ein Leichnam verbarg. Denn die Umrisse der Körper von Toten, die sich unter Tüchern abzeichneten, waren ihm nur zu vertraut.
Eine Weile nachdem er dem Knaben im Wald begegnet war, hatte er Léons Spur verloren und sie erst bei einer abgelegenen Kirchenruine wieder gefunden. Kurz darauf waren die harten Klänge einer Hacke, die auf Eis trifft, durch die Einöde geschallt. Roger hatte sich gefragt, was dies bedeuten mochte – bis er die seltsame längliche Rolle entdeckt hatte. Der Tote musste ein Mensch mit einem schmächtigen Körper sein. Nein, wohl keiner von Friedrichs anderen Leuten. Wieder, wie im ersten Moment, als er die Rolle gesehen hatte, erfüllte ihn Zuversicht. Es würde ihm gelingen, seinen Befehl auszuführen. Nach Monaten des Wartens war dies das erste wirkliche Zeichen, dass Enzio, der Kardinal von Trient, im Auftrag des Papstes versuchte, den deutschen König für einen Verrat am Kaiser zu gewinnen.
Der Diener ließ nun die Hacke fallen, ging ans Ufer und hob die Rolle hoch. Auf dem Eis entfernte er die Sackleinwand, stand aber so, dass er Roger die Sicht verdeckte. Erst als Léon den Leichnam ins Wasser versenkt hatte, konnte Roger einen kurzen Blick auf einen groben braunen Kleiderstoff erhaschen. Das Tuch blähte sich über die Ränder des Eislochs, als wehrte sich der Tote gegen das Versinken im kalten Wasser. Doch nach einem kräftigen Stoß, den der Diener mit der Hacke ausführte, verschwand er endgültig. Danach hob Léon die Sackleinwand und das Werkzeug auf. Mit steifen Schritten ging er zu seinem Pferd, das er an einem Baum am Ufer festgebunden hatte.
Roger sah dem Diener nach, wie er wenig später an dem Bachlauf entlang in Richtung der Ruine ritt. Er wartete einige Zeit und lockerte seine verkrampften Glieder. Als er sich gewiss war, dass der Diener nicht wiederkehren würde, machte er sich auf den Weg zum Teich. Angespannt achtete er darauf, sich rasch im Unterholz verbergen zu können. Als er das Ufer erreichte, übergoss Sonnenlicht die Eisfläche.
Nach wenigen Schritten kauerte sich Roger neben dem Loch nieder, schlug die Ärmel seines wollenen Untergewandes und seines Mantels zurück und fasste in das Wasser. Eine dünne Eisschicht hatte sich bereits darauf gebildet. Während er nach dem Körper suchte, schlug sich die Kälte wie mit eisigen Zangen in seine Haut. Aber es gelang ihm nicht, den Leichnam zu ertasten. Als er sich wieder aufrichtete und die glitzernde Fläche betrachtete, rieb er sich unwillkürlich die schmerzende Haut. Er konnte nur Algen erkennen, die gelblich grün durch das Eis schimmerten.
Roger hasste Gegebenheiten wie diese, wenn Dinge greifbar nahe und doch unerreichbar fern waren. Er überlegte, ob er nach dem Toten tauchen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Lange würde er nicht in dem kalten Wasser überleben. Außerdem waren die Aussichten, dass er das Eisloch wieder finden würde, gering. Nein, er würde seinem Herrn nichts nutzen, wenn er erfroren in einem Waldteich trieb.
Als Roger zum Ufer zurückgekehrt war, suchte er erneut sein Versteck bei den Felsen auf. Seit dem Vortag hatte er nichts gegessen. Deshalb nahm er Brot und ein Stück Speck aus seinem Bündel und biss gierig davon ab. Wer mochte der Tote sein? Vielleicht jemand aus dem Tross des Kardinals, der zufällig etwas von den Plänen des Papstes erfahren hatte, was er nicht wissen sollte. Vielleicht auch jemand aus dem Gefolge Heinrichs, dem der Kardinal misstraute und den er deshalb, mit oder ohne Wissen des Königs, hatte beseitigen lassen. Nun, irgendwann würde er erfahren, wer der Tote war.
Hellwach und zugleich versonnen, nahm Roger einen Schluck Wasser aus seiner kleinen mit Fell umwickelten Flasche. Die Kälte der Flüssigkeit brannte in seinem Magen. Während all der Jahre, die ich im Süden gelebt habe, habe ich ganz vergessen, wie eisig die Winter im Norden sind, dachte er bitter.
Roger aß weiter, während er auf die Geräusche in seiner Umgebung achtete. Im Herbst des vergangenen Jahres war ihm sein Auftrag erteilt worden. An einem klaren Septembertag, an dem ein heißer, trockener Wind über die apulische Hochebene wehte, war er durch das Tor des Castels del Monte geritten. Als
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