Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
Beine wurden schwer, jeder Schritt wurde zur Qual. Sein Kopf hämmerte, die Wunde über seinem Auge begann wieder zu bluten. Der Boden erzitterte ständig unter seinen Füßen. Statuen stürzten von ihren Sockeln. Steine fielen von der Decke und hüllten ihn in Staubwolken ein.
Langsam verlor er die Hoffnung. Obwohl er sich sicher war, daß er die einzige Richtung eingeschlagen hatte, die sie genommen haben konnte, hatten die wenigen Drakonier, denen er später begegnet war, sie nicht gesehen. Was konnte passiert sein? Hatte sie . . . Nein, daran wollte er nicht denken. Er ging weiter. Vor ihm wehte die frische Nachtbrise, hinter ihm blähten sich Rauchschwaden auf.
Der Tempel begann zu brennen.
Als er einen schmalen Korridor passierte und über einen Haufen Schutt stieg, hörte Tanis ein Geräusch. Er blieb stehen. Ja, da war es wieder – genau vor ihm. Er spähte durch den Rauch und den Staub und griff nach seinem Schwert. Die letzte Gruppe Drakonier, der er begegnet war, war betrunken und mordlustig gewesen. Ein einzelner menschlicher Offizier könnte da schnell zum leicht erlegbarenWild werden . . .Aber glücklicherweise hatte sich einer von ihnen erinnert, Tanis mit der Finsteren Herrin gesehen zu haben. Beim nächsten Mal würde er vielleicht nicht mehr so viel Glück haben.
Vor ihm lag der Korridor in Trümmern, ein Teil der Decke war eingebrochen. Es war tiefdunkel – seine Fackel bot das einzige Licht –, und Tanis haderte mit sich über die Notwendigkeit, etwas zu sehen, und der Angst, gesehen zu werden. Schließlich entschied er, das Risiko einzugehen, sie brennen zu lassen. Er würde Laurana niemals finden, wenn er in der Dunkelheit herumirrte.
Wieder einmal mußte er seiner Verkleidung vertrauen.
»Wer da?« brüllte er mit barscher Stimme und hielt die Fackel kühn in den zerstörten Korridor.
Er erhaschte eine rennende Gestalt in einer glänzenden Rüstung, aber sie rannte vor ihm weg – und nicht auf ihn zu. Merkwürdig für einen Drakonier . . . sein erschöpftes Gehirn schien drei Schritte hinterherzustolpern. Er konnte die Gestalt jetzt deutlich erkennen, schlank und geschmeidig und viel zu schnell laufend . . .
»Laurana!« schrie er, dann in der Elfensprache: »Quisalas !«
Die herumliegenden Säulen und Marmorsteine verfluchend, stolperte und lief Tanis, zwang seinen schmerzenden Körper zu Gehorsam, bis er sie eingeholt hatte. Er packte sie am Arm und hielt sie an.
Jeder Atemzug war ein heftiger Schmerz. Er war so benommen, daß er glaubte, ohnmächtig zu werden. Aber er hielt sie in einem todesähnlichen Griff fest, hielt sie sowohl mit seinen Augen als auch mit seiner Hand.
Jetzt verstand er, warum die Drakonier sie nicht gesehen hatten. Sie hatte ihre silberne Rüstung abgestreift und eine Drakonierrüstung übergezogen, die sie einem toten Krieger abgenommen hatte. Einen Moment lang konnte sie Tanis nur anstarren. Sie hatte ihn anfangs nicht erkannt und beinahe ihr Schwert in ihn gestoßen. Nur das Elfenwort hatte sie aufgehalten, Quisalas , Geliebte. Das – und der eindringliche Blick der Qual und des Leidens in seinem blassen Gesicht.
»Laurana«, keuchte Tanis mit jener gebrochenen Stimme, die Raistlin einst gehabt hatte. »Verlaß mich nicht. Warte . . . hör mir bitte zu!«
Mit einer Armdrehung befreite sich Laurana aus seinem Griff. Aber sie verließ ihn nicht. Sie wollte zu sprechen anfangen, aber ein weiteres Beben des Gebäudes hinderte sie daran. Als Staub und Schutt auf sie rieselten, zog Tanis Laurana an sich, um sie zu beschützen. Sie umklammerten sich ängstlich, dann war es vorüber. Aber nun standen sie in der Dunkelheit. Tanis hatte die Fackel fallen lassen.
»Bist du verletzt?« fragte Laurana kühl, versuchte wieder, sich seinem Griff zu entziehen. »Wenn ja, kann ich dir helfen. Wenn nicht, schlage ich vor, auf weitere Abschiedsfloskeln zu verzichten. Was . . .«
»Laurana«, sagte Tanis leise und schweratmend. »Ich bitte dich nicht, zu verstehen – ich verstehe es selbst nicht. Ich bitte dich nicht um Vergebung – ich kann mir selbst nicht vergeben. Ich könnte dir sagen, daß ich dich liebe, daß ich dich immer geliebt habe. Aber das wäre nicht wahr, denn Liebe kann nur von jemandem kommen, der sich selbst liebt, und gerade jetzt kann ich mein eigenes Spiegelbild nicht ertragen. Ich kann dir nur sagen, Laurana, daß . . .«
»Psst!« flüsterte Laurana und legte ihre Hand auf Tanis’ Mund. »Ich habe etwas gehört.«
Lange Zeit
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