Die Chronolithen
historischen Schlacht.
21. Dezember 2041.
Zwanzig Jahre in der Zukunft.
ZWEI
Ich flog in die Staaten, mit einer frischgebackenen Fluggesellschaft, die je ein Standbein in Beijing, Düsseldorf, Gander und Boston hatte – einmal um die Erde, mit nervtötenden Zwischenstationen – und landete schließlich im Logan Airport, mit imitierten Designerkoffern in bester Bangkok-Tradition, einem Fünftausend-Dollar-Guthaben und einer unliebsamen Verpflichtung, alles dank Hitch Paley. Ich war daheim, was immer ich mir davon versprach.
Es war erstaunlich, wie unverdient reich mir Boston nach einer Strandsaison erschien, und zwar noch ehe ich das Terminal verließ, als seien die ganzen schimmernden Lokale und Zeitungskioske nach einem kräftigen Regenguss wie Pilze aus dem Boden geschossen. Hier war nichts älter als fünf Jahre, weder das Terminalgebäude noch die Atlantikverfüllung, auf der es stand, eine Errungenschaft, die jünger war als die meisten ihrer Schirmherren. Ich unterwarf mich einer nicht-invasiven Zollkontrolle, durchquerte den hallenden Arrivals-Komplex und steuerte auf einen Taxistand zu.
Das Rätsel des Chumphon-Chronolithen – wie ihn ein Wissenschaftsjournalist erst vorigen Monat getauft hatte – war bereits in der öffentlichen Wahrnehmung verblasst. Es wurde noch darüber berichtet, aber hauptsächlich in den Supermarktblättchen (Totem des Teufels oder Posaune des Jüngsten Gerichts) und in zahllosen verschwörungsorientierten Webjournalen. Dem zeitgenössischen Leser mag es unbegreiflich erscheinen, aber die Welt war zu den näher liegenden Dingen übergegangen – Brazzaville 3, die Windsor-Hochzeiten, der Mordversuch an der Diva Lux Ebone auf dem Roma-Festival am letzten Wochenende. Es war, als warteten wir allesamt auf das, was dem neuen Jahrhundert seinen Stempel aufdrücken sollte, auf das Etwas oder die Person oder das abstrakte Ereignis, das wir für das absolute Novum, das Wahrzeichen des einundzwanzigsten Jahrhunderts halten würden. Und selbstverständlich erkannten wir es nicht, wenn es sich zum ersten Mal in die Nachrichten drängelte. Der Chronolith war etwas Einzigartiges, faszinierend, ja, aber äußerst unergründlich und daher äußerst langweilig. Man legte ihn beiseite wie ein frustrierendes Kreuzworträtsel.
Tatsächlich gab es auch weiterhin großes Interesse an dem Ereignis in Thailand, aber nur von bestimmten nachrichtendienstlichen und militärischen Kreisen auf nationaler wie internationaler Ebene. Der Chronolith war schließlich eine unverhohlen feindliche militärische Intervention großen Stils und äußerster Heimtücke, auch wenn die einzigen Opfer ein paar tausend knorrige Bergkiefern waren. Die Provinz Chumphon gehörte zur Zeit zu den bestüberwachten Gegenden der Welt.
Doch was ging mich das an? Ich gedachte das alles von mir abzuschütteln, indem ich ein paar tausend Meilen nach Westen flog.
So dachten wir damals.
Der Herbst war ungewöhnlich kalt. Wolken eilten am Himmel dahin; ein starker Wind beutelte die letzte Fischerflotte des Jahres. Außerhalb des Straßenatriums des AmMag-Bahnhofs knatterte eine Phalanx von Fahnen.
Ich bezahlte das Taxi, durchquerte die Eingangshalle und erstand ein Ticket für den Northern Tier Express: Detroit, Chicago und über die Prärie nach Seattle, obwohl ich nur bis Minneapolis wollte. Einsteigen ab 19.00 Uhr, teilte mir der Automat mit. Ich erstand eine Zeitung und las sie auf dem Münzmonitor, bis die Bahnhofsuhr 16.30 zeigte.
Dann stand ich auf, sondierte die Halle nach verdächtiger Aktivität (nichts) und trat auf die Washington Street hinaus.
Fünf Blocks südlich des Magnetschwebebahnhofs gab es eine winzige, uralte Poststelle mit Namen Easy’s Packages and Parcels.
Der Laden schien kaum frequentiert, die Mylarfolie hinter der Schaufensterscheibe starrte vor Fliegendreck. Ein Mann mit stählernem Laufgestell bugsierte sich durch die Eingangstür und tauchte nach zehn Minuten mit einem braunen Papierumschlag wieder auf. Das war vermutlich der typische Kunde in solchen Klitschen wie Easy’s, einer aus dem goldenen Zeitalter, bis zum Erbrechen loyal gegenüber dem, was von der US-Post noch übrig war.
Es sei denn, der Gentleman mit der Gehhilfe war ein Verbrecher mit Latexmaske. Oder ein Polizist.
Ob ich Skrupel hatte bei dem, was ich vorhatte? Viele – zumindest Bedenken. Hitch hatte meine Heimreise finanziert und der Gefallen, den ich ihm dafür tun sollte, hatte, als wir ohne einen Pfennig
Weitere Kostenlose Bücher