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Die Delegation

Die Delegation

Titel: Die Delegation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Erler
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hatten wir uns verdächtig gemacht? Wer läuft schon zu Fuß in diesem übermotorisierten Land, noch dazu nachts um halb elf? Es gab doch Taxis genug! Gab es denn welche? Das war alles sehr irritierend. Diese amtlichen Verfolger machten mich langsam verrückt. Wir wagten es nicht, uns nach ihnen umzusehen, wir waren schon verdächtig genug. Mein Paß lag im Hotel. Vielleicht waren es auch verkleidete Gangster.
    Mitten im schönsten Eilschritt blieb Juliette abrupt stehen und nahm mich am Arm.
    »Wir sollten uns küssen, vielleicht geben sie dann auf!«
    »Bitte?« Aber ich hatte schon richtig verstanden.
    Juliettes Vorschlag kam etwas überraschend. Aber durch unsere Nervosität schien er hinreichend begründet. »Küssen?« Ich war durch diese hektische Rennerei schon weitgehend nüchtern geworden.
    »Wir müssen zeigen, daß wir Ausländer sind, Europäer, denn Amerikaner tun so etwas nicht. Und dann werden sie hoffentlich taktvoll sein.« Wieso tun Amerikaner das nicht? »Zumindest, es schadet nicht!«
    Damit hatte Julie zweifellos recht. Es schadete nicht. Aber ich hatte, wie mir schien, eine bessere Idee: »Wir gehen einfach hin und fragen, was sie wollen!«
    »O non! Dann sie denken, wir sind interessant an ihnen…!«
    »Interessiert an ihnen…«, verbesserte ich. »Oder noch besser, Julie, du gibst ihnen den telepathischen Befehl, endlich abzuhauen, zu verschwinden!«
    »Ja, das ist gut, wir tun das, solange wir küssen. Sie kommen in eine indifferente Situation. Wenn man nicht weiß, wie soll man sich verhalten, man ist empfänglicher für Signale von außen!«
    Sie hatte aufgehört zu lachen. Offenbar meinte sie das alles im Ernst. Sie sah mich an, abwartend, und irgendwie… na ja… Ein seltsames Mädchen.
    »Wenn es dir peinlich ist, du mußt nicht!« Nein, es war mir nicht peinlich, wirklich nicht! Also küßten wir uns. Eigentlich war es sehr angenehm.
    Es war auch nicht unbequem. Dank ihrer Größe fanden die taktischen Zärtlichkeiten auf gleicher Höhe statt. Ich versuchte, möglichst neutral zu empfinden, was sie mir durch ihr natürliches Talent für diese Sachen nicht eben leicht machte. Aber, verdammt noch mal, schließlich war das Ganze eine Art wissenschaftliches Experiment.
    Sie hielt den Kopf etwas schräg, vermutlich, um die Straße zu überblicken und den Wagen im Auge zu behalten. Ich strich ihr langsam über das Haar und wischte es zur Seite. Dadurch bekam ich den Blick auf ein vergittertes Schaufenster frei. Es war ein Waffengeschäft. Da lagen die Colts in Reih und Glied, genug, um einen Westernfilm damit auszustatten. Auch zwei Nachbildungen der berühmten Winchester-Rifles hingen an der Wand – oder waren das Originale? Der Streifenwagen hinter uns tuckerte leise im Leerlauf. Gab nun Julie der Besatzung, wie verabredet, die telepathischen Befehle? Oder verließ sie sich auf mich? Mein Verdacht wuchs, daß sie sich überwiegend auf diesen Kuß konzentrierte.
    Hatten wir eigentlich schon zu Beginn des Experiments so dicht beieinander gestanden? Jeden einzelnen dieser einhundertvierundachtzig Zentimeter Mädchen konnte ich spüren, lebendig und warm. Der Stoff dieser pflegeleichten, knitterarmen Treviraanzüge ist ja sehr dünn.
    Im Prinzip hatte Juliette recht: Auf dieser 16. Straße der Regierungshauptstadt Washington, die geradewegs auf das Weiße Haus zulief, neben einem vollbesetzten Streifenwagen, würde ein anständiges amerikanisches Girl sich nie in dieser Weise küssen lassen! Jedenfalls nicht so lange!
    Inzwischen hatte ich im Fenster zwischen allerlei Jagdkram auch Maschinenpistolen entdeckt, sechs Stück. Ganz korrekt mit Preisschildern versehen, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, in diesem Laden eine Untergrundarmee auszurüsten.
    Die beiden unförmig dicken Rohre mit den perversen Lüftungsschlitzen, das waren wohl Bazookas. Eigentlich hatte ich keine Ahnung. Ich hasse Waffen aller Art!
    Wie denn nun? Fuhren die immer noch nicht weg? Wie lange küßten wir schon? Wann, etwa, geht die Sonne im September auf? Washington und Lissabon haben ungefähr die gleiche geographische Breite. Wieviel Zeit bleibt uns noch? Juliette hatte mir von ihren parapsychologischen Fähigkeiten erzählt. Erst neulich hatte sie einen ›CR-Wert‹ von fünf Komma null erreicht. Zwar hatte ich vergessen, wie der sich errechnet, aber CR hieß ›critical ratio‹ oder so ähnlich. Sollte ein telepathisches Experiment als erfolgreich gelten, mußte eine Trefferwahrscheinlichkeit

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