Sternenfaust - 022 - Im Tempel der Toten Götter
Drinnen war es dunkel bis auf das Licht, das durch den Eingang hereinfiel. Doch Siarins Augen vermochten, sehr gut im Dunkeln zu sehen. Das Innere des Heiligtums war ein leerer, kuppelförmiger Raum, in dessen Mitte eine glänzende Halbkugel stand, glatt wie ein Flusskiesel und von der silbernen Farbe der Sterne.
Darauf befanden sich heilige Symbole, die das Geheimnis der Alten bewahrten. Niemand konnte sie entziffern, nicht einmal die Priester, die hier zum Teil viel Zeit ihres Lebens verbracht hatten, um ihren Sinn zu erkennen.
Siarin waren die Geheimnisse der Alten im Augenblick allerdings vollkommen gleichgültig. Sie war gekommen, um in der Abgeschiedenheit des Tempels Antworten auf einige Fragen zu finden, die sie beschäftigten. Diese waren so wichtig, dass sie es für erforderlich hielt, den Tempel aufzusuchen, statt ihre Antworten zu Hause in der Klausur eines Blinin -Raums zu finden.
Es war ihr erster Pilgergang zum Heiligtum, und sie wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie fühlte sich überwältigt von der schlichten Schönheit der sternenfarbenen Kuppel und starrte sie lange Zeit reglos an.
In diesem Tempel dienten keine Priester. Priester brauchte man zu Hause für die Verbindung der Allgemeinheit mit den Göttern. Doch wer wie Siarin ein gewichtiges persönliches Anliegen hatte, trug es den Göttern ohne die Vermittlung der Priesterschaft selbst vor und pilgerte zu diesem Zweck zum Heiligtum der Alten.
Dies war der Ort, von dem es hieß, dass er in der Mitte der Welt läge, dort wo die Götter einst selbst mit den Alten gelebt hatten. Irgendwann hatten sie Rhuka wieder verlassen. Vergessen war, warum oder wohin sie gegangen waren.
Sie hatten nur dieses Heiligtum zurückgelassen, das von den Alten später mit dem Gehäuse des Tempels umbaut worden war, um es angemessen zu ehren. Niemand wusste, was sich im Inneren der Sternenkuppel befand. Doch es hieß, dass alle Wohltaten der Götter, die das Volk von Rhuka immer noch genoss, hier ihren Ursprung hatten.
Das musste stimmen, denn die unterirdischen Wohnungen, in denen die Rhukani lebten, wurden von unsichtbaren Geistern ständig auf einem bestimmten Temperaturniveau gehalten. Frisches Wasser floss aus Öffnungen in den Wänden, der Unrat wurde schnell und geruchlos in tiefen Schächten entsorgt, und Sonnenlicht flutete auf geheimnisvollen Wegen jeden Raum, wenn man es wollte. Die unterirdischen Gärten und Felder bekamen auf denselben geheimnisvollen Wegen Licht, Wasser und Nährstoffe, sodass die Ernten reichlich und zuverlässig waren und niemand hungern musste.
Ja, die Götter meinten es immer noch gut mit den Rhukani, auch wenn sie selbst nicht mehr unter ihnen lebten. Deshalb war Siarin auch zuversichtlich, dass sie zumindest angehört werden würde. Wahrscheinlich erhielt sie keine direkte Antwort, aber bestimmt einen Hinweis, mit dem sie ihre Antworten selbst finden konnte.
Doch wie sollte sie beginnen, den Göttern ihr Anliegen vorzutragen? Hier im Tempel schienen ihr die üblichen einleitenden Gebete und vorgegebenen rituellen Handlungen zu schwach und unangemessen zu sein.
Schließlich entschied sie sich, ihre Visionssuche damit zu beginnen, die Kuppel so oft zu umrunden, bis sie alle Gebete gesprochen und gesungen hatte, die sie kannte. Sicher würde das mehrere Stunden in Anspruch nehmen, denn Siarin war Tochter einer Priesterin und kannte alle Gebete ihres Volkes.
Sie begann, mit gemessenen Schritten in Richtung des Sonnenlaufs zu gehen mit je einem Schritt für eine Gebetssilbe. Als Erstes sprach sie die Gebete der Ehrung der Götter. Anschließend sang sie die Gebete des Dankes. Und noch ehe sie bei den Gesänge der Festtagszeremonien angekommen war, befand sie sich in jenem Bewusstseinszustand, der den Kontakt mit der Ebene der Götter erlaubte. Sie spürte ihre Gegenwart, als stünden sie neben ihr, und fühlte, wie ihre Kraft sie einhüllte. Sie formulierte in Gedanken ihr Anliegen, während ihre Stimme immer weiter Gebete sprach und sang und ihre Beine immer weiter mit einem Schritt pro Silbe rhythmisch das Allerheiligste umrundeten.
Götter, Beschützer und Wohltäter meines Volkes! Ihr kennt mein Innerstes, meine Gedanken und meine Gefühle besser als ich selbst. Helft mir, meinen Weg zu finden und die richtige Entscheidung zu treffen. Ich bin die Tochter unzähliger Generationen von Priesterinnen und Priestern. Ich liebe euch und ehre euch aus tiefster Seele. Aber ich fühle mich nicht berufen, euch auf
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