Die Drachen Der Tinkerfarm
die Hand aus. »Kennst du es?«
Erstaunt wie alle anderen sah Lucinda in Tylers geöffneter Hand etwas funkeln. Gideon fragte: »Was? Was ist das? In der Bibliothek, sagst du?«
»Ja. Vor dem Porträt von Octavio Tinker.«
Gideon nahm Tyler das glänzende Ding aus der Hand und starrte es fassungslos an. Alle in der Küche verrenkten sich den Hals, um etwas zu erkennen. Gideon hielt das goldene Medaillon an der feinen Goldkette hoch. »Du hast es gefunden?« Seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. »War es irgendwo versteckt?«
Tyler zögerte, offensichtlich darum bemüht, ja nichts Falsches zu sagen. »Nein, nicht versteckt. Es lag einfach am Boden. Als ob jemand … wollte, dass es gefunden wird.«
Auf einmal schien Gideon von seinem Alter eingeholt zu werden. Seine Unterlippe zitterte, und seine Augen wurden tränennass. »Es … es ist ihres!«, sagte er. »Das Halsband, das ich ihr geschenkt habe. Grace, ach, meine schöne Grace!« Er führte das Schmuckstück mit bebenden Händen an den Mund und küsste es. »Es ist ein Zeichen – sie hat es mir irgendwie durch die Verwerfungsspalte zukommen lassen. Das bedeutet, sie lebt und will, dass ich es weiß.« Tyler war unbehaglich zumute, aber Gideon merkte es nicht. »Vielen Dank, mein Junge, vielen, vielen Dank! Das ist das größte Geschenk, das du mir machen konntest. Meine Grace lebt!« Gideon Goldring nahm Tyler und Lucinda bei der Hand. Lucinda konnte ihm nicht in die Augen schauen. Sie schämte sich der ganzen Lügen, die sie ihm erzählten. Sobald es ging, zog sie ihre Hand weg und Tyler desgleichen, aber ihr Onkel nahm es gar nicht zur Kenntnis.
»Ich verliebte mich in sie, als sie noch ein ganz junges Ding war«, sagte der alte Mann mit rauher Stimme. »Aber es war mir gar nicht bewusst. Erst als sie erwachsen geworden war, verstand ich endlich meine Gefühle für sie. Aber ihr Großvater, der alte Octavio, stellte sich lange gegen unsere Verbindung. Er wollte nicht, dass ein bezahlter Helfer seine Enkelin heiratet.« Gideon lachte bitter. »Mehr war ich nicht für ihn. Bloß der junge Angestellte, der ihm half, Kristalle zu züchten. Es dauerte Jahre, bis er mich akzeptierte. Uns. Und als wir dann endlich hätten glücklich werden können, verlor ich sie.
Ich weiß immer noch nicht, was eigentlich passiert ist. Ich hatte die Farm am Abend verlassen und Octavio ebenfalls – mit dem eigenen Wagen. Der Sturkopf. Er war zu alt, um nochselbst zu fahren, das hatten wir ihm schon hundertmal gesagt, aber er wollte nicht hören. Grace blieb also allein zurück. Als ich spät abends zurückkam, sah ich das Auto des Alten am Rand der Auffahrt im Gebüsch stecken, und er selbst hatte einen Herzschlag erlitten und lag tot daneben. Grace war fort, ich konnte sie nirgends finden. Ich weiß nicht, ob sie ihren Großvater entdeckt hatte und völlig verstört geflohen war oder ob es bloß ein furchtbarer Zufall war.
Dann fand Simos ihre Spuren am Silo, und die Spuren verschwanden in der Verwerfungsspalte. Verschlimmernd kam hinzu, dass das Kontinuaskop dort am Boden lag, als ob sie es fallen gelassen hätte, bevor sie in die Spalte eingetreten war. Ohne das Instrument war gar nicht daran zu denken, dass sie je wieder zurückfand …«
Gideon schwieg abermals eine Weile, doch Lucinda hörte, wie sein Atem zitterte. Sie war betroffen, wie alle im Raum. Der Arme!
»Jetzt aber«, fuhr Gideon schließlich fort, »weiß ich dank euch, dass sie noch lebt – dass sie versucht, mit mir in Kontakt zu treten!« Er reckte sich und breitete die Arme aus. »Und wir haben ein Drachenjunges! Tyler und Lucinda, euch zwei auf die Farm zu holen, war vielleicht das Beste, was ich seit Jahren getan habe.« Er streckte erneut die Hände nach ihnen aus und zog sie zu einer etwas peinlichen Umarmung an seine knochige Gestalt. Der Bademantel roch nach Puder und Schweiß. »Vielen Dank euch beiden! Bitte besucht uns bald wieder, spätestens im nächsten Sommer, oder vielleicht auch schon in den Weihnachtsferien.«
Ragnar erbarmte sich der beiden, die Gideon so fest an sich gequetscht hatte, dass Lucinda fast ohnmächtig wurde. »Sie werden ihren Zug verpassen, Gideon«, gab er zu bedenken.
Der alte Mann ließ sie widerwillig los. Hinter ihm hatte Mrs. Needle ihr spezielles Lächeln aufgesetzt, das nicht bis zu den Augen ging. »O ja«, sagte die dunkelhaarige Frau. »Passt gut auf euch auf, bis wir uns wiedersehen. Es geht sehr gefährlich zu in der Welt dort
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