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Die Dunkelheit in den Bergen

Die Dunkelheit in den Bergen

Titel: Die Dunkelheit in den Bergen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvio Huonder
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So oft der Dienst es ihm erlaubte, wanderte der Landjäger Karl Rauch im Herbst des Jahres 1821 in der Abenddämmerung auf den Galgenhügel im Süden der Stadt Chur. Oberhalb der Straße, die nach Malix führte, setzte er sich auf einen Stein und wartete auf den Einbruch der Nacht. Von hier oben hatte er einen guten Ausblick auf den Galgen und die am Fuß des Hügels beginnende Stadt.
    Am Galgen hing ein Strick, und am Strick hing ein Leichnam. Oder das, was Wind und Wetter und die Krähen nach Monaten von ihm übrig gelassen hatten. Noch am 28. August hatte der Bürgermeister einen Brief an den hochlöblichen Kleinen Rat des Kantons Graubünden geschrieben. Darin beschwerte er sich in höflichem Ton, mit untertänigster Hochachtung und aller nötigen Ehrerbietung über den Leichnam, der schon viel zu lange am Galgen hing und einen solch widerwärtigen Anblick und Geruch verbreitete, dass die in unmittelbarer Nähe wohnenden Einwohner um ihre Gesundheit fürchteten. Der Rat ließ sich Zeit mit der Antwort. Der Delinquent war im Juli vom Kriminalgericht dazu verurteilt worden, so lange am Galgen hängen zu bleiben, bis er von alleine herunterfallen würde. Unter Androhung einer hohen Strafe war es verboten, den Kadaver zu entfernen. Der Geruch wehte, je nach Windrichtung, direkt zu den nächstliegenden Häusern oder in Richtung Wald oberhalb der Stadt. Der Anblick war im Herbst nicht schöner geworden. Die Krähen hatten alles Weiche bis auf die Knochen weggepickt. Das Hemd hing in Fetzen über den Brustkorb, der wie ein leerer Käfig im Wind baumelte. Immer noch flatterten die Vögel schreiend um den Galgen herum. Einzig die Hosen hatten dem Verfall Widerstand zu leisten vermocht.
    Der Landjäger Karl Rauch hatte sich freiwillig zu diesen Kontrollgängen gemeldet. Anfang November kam der Frost, und das Geruchsproblem schien gelöst. Vor Weihnachten jedoch setzte Tauwetter ein, und der Rest des Kadavers fiel eines Abends, vor den Augen des Landjägers, zu Boden. Sofort überquerte der große und kräftige Mann die Straße und ging zum Galgen hinunter, wo er unverzüglich damit begann, auf den Überresten des Verurteilten herumzutrampeln und die einzelnen Körperteile, die sich voneinander lösten, in alle Richtungen wegzutreten. Am weitesten flog der Schädel, der anschließend den Hügel hinunterkollerte und unter den Büschen verschwand, welche die Stadtmauer säumten. Der Landjäger trat die Knochen so lange vom Galgen fort, bis in der nächsten Umgebung nichts mehr von ihnen zu sehen war. Er tat dies zwar mit geduldigem Eifer, aber mit einem stoischen Gesichtsausdruck, als empfinde er dabei nichts. Um den Rest würden sich die Ratten und die Füchse kümmern.
    Danach ging er vom Galgenhügel in die Stadt hinunter und berichtete seinem Vorgesetzten, dass der Leichnam vom Galgen verschwunden sei und dass gewiss niemand berichten könne, wie dies geschehen sei.
    Damit war die Sache für ihn abgeschlossen.

I
    Das Reich einer hauptlosen Ungebundenheit, der Volksaufläufe, einer wilden und launischen Gesetzgebung aus der Mitte des tobenden, frevelnden und strafbaren Haufens, der Verwahrlosung der Gerechtigkeit, bürgerlichen Zucht und Polizei darf nicht wieder zurückkehren. Bünden soll wissen, dass es als ein enges Bundesglied einer unter geehrten Gesetzen lebenden Eidgenossenschaft sich ihr anähnlichen muss, um dieses Bandes wert zu sein.
    Schreiben des russischen und österreichischen Gesandten an die Regierung in Graubünden im Jahr 1814

1 Sonntagabend, 8. Juli 1821. Nach Einbruch der Nacht hatte es zu regnen begonnen. Es war so finster, dass man den Boden unter den Füßen nicht sah. Von den umliegenden Bergen war erst recht nichts zu erkennen. Von ihren bewaldeten Hängen ging vielleicht eine noch tiefere Finsternis aus als vom Himmel. Das konnte auch bloße Einbildung sein, eine Täuschung der Augen, die weit aufgerissen auf der Suche nach Formen und Farben ins lichtlose Nichts starrten.
    In die Dunkelheit mischten sich das leichte Rauschen des Regens und ein feines Schmatzen, wenn unsichtbare Schuhe im Schlamm versanken. Hin und wieder ein kurzes leises Bimmeln, wie von einem Totenglöcklein, das von unsichtbarer Hand gleich wieder angehalten wurde. Wer sich in dieser Landschaft auskannte, der wusste von den Kühen, Rindern und Kälbern, die auf den Wiesen ruhten und die manchmal ihre von Müdigkeit schweren Köpfe bewegten. Wer sich hier auskannte, wusste von den Maiensässhütten, in denen die Bauern mit

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