137 - Insel des Grauens
Stechend gelb zeigte sich die erste Morgenröte. Nur wenige Geräusche unterbrachen die Ruhe. Über dem Meer lag ein dünner Nebel. Die Brandungswellen waren ungewöhnlich hoch, denn gestern, den ganzen Tag über, hatte der Maestrale gewütet. Es war einer dieser Tage mitten im Sommer, an dem sich sogar die Krabben am Strand zu verstecken schienen.
Wieder zischte eine Welle an den Strand, überschlug sich und wirbelte den Sand bis an die Grenze durcheinander, die von Strandginsterbüschen gebildet wurde.
Schritte knirschten auf dem Kies, wechselten über aufs taufeuchte Gras, tappten über den Sand der großen, halbmondförmigen Bucht.
Karina hatte ihr blondes Haar aufgesteckt und trug über dem Bikini nur eine knielange Frotteejacke. Die junge Frau fröstelte, als ihr das salzige Seewasser über die Zehen schäumte. Noch immer hatte sich das Meer nicht beruhigt. Hohe Dünungswellen rollten an und brachen sich an den zahlreichen Felsen, Klippen und Riffen des Inselchens.
Am Ende des Strandes flog eine Möwe auf und schrie ärgerlich.
Karina wandte den Blick von der Fähre ab, die weit draußen ihren Kurs fuhr. Zwischen seltsam geformten Sandhügelchen vor der Kulisse der geduckten Tamariskenbüsche blinkte und schimmerte etwas auffallend unter den allerersten Sonnenstrahlen.
Die Frau lief auf die Stelle zu und bückte sich. Sie streckte die Hand aus und berührte den Fund. Es waren breite Glieder eines Goldarmbands, das über einer bleichen, faltigen Haut lag. Halb erschrocken, halb neugierig wischte Karina den Sand weg und befreite eine kleine, klauenartig zusammengekrampfte Hand. Wieder wirbelte eine Brandungswelle heran, zischte unter Karinas Knien hindurch und spülte den Sand vom Hals und vom Gesicht der Toten weg.
Aus Sandwirbeln und schäumendem Wasser heraus tauchte ein Gesicht auf, umrahmt von leuchtendrotem, langem Haar.
Der Schrecken, der Karina regungslos und stumm gemacht hatte, zerriß.
Sie stand auf, schlug die Hände vor ihr Gesicht, holte unbewußt tief Luft und schrie langgezogen und gellend auf.
Der Schrei schnitt durch den beginnenden Tag wie eine Sirene.
Er weckte die Hälfte aller Hotelgäste.
Dann erkannte sie die Tote. Es war Micki mit dem prachtvollen Haar. Die deutsche Touristin - jetzt war sie tot, und wieder spülte das brodelnde Wasser Teile ihres Körpers frei.
Je mehr Karina sah, desto brutaler und tiefer packte sie die Angst. Sie stand dem Entsetzen gegenüber, einer Art Tod, wie ihn diese Welt bis zur Stunde nicht gekannt hatte.
Zuerst kam Gabriele, der schwarzhaarige Nachtportier, herbeigerannt. Mit einem Blick hatte er die regungslose Gestalt am Strand gesehen, deren weiße Jacke sich deutlich gegen den graugelben Morgenhimmel abzeichnete.
„Was ist los?" fragte er und verstummte, nachdem er, mit den Blicken ihrer ausgestreckten Hand folgend, einen italienischen Fluch gemurmelt hatte.
„Madonna mia!" keuchte er auf.
Die nackte Leiche lag vor ihnen, seltsam zusammengekrümmt und nur noch teilweise von nassem Sand bedeckt. Die Haut war unnatürlich weiß und faltig. Nur das leuchtende Haar hatte seine Farbe behalten. Die Augen waren weit aufgerissen. Knie und Ellenbogen, wie im Todeskrampf angezogen, stachen spitz hervor.
Die Zehen waren einwärts gekrümmt, ebenso wie die Finger. Sie glichen den Klauen eines unbekannten Tieres. Scharf hoben sich die dunkel lackierten Nägel ab. Über der eingefallenen rechten Brust klaffte eine große Wunde. Die Tote starrte anklagend in den Himmel, der sich langsam blau zu färben begann. Gabriele packte Karina an den Schultern, drehte sie um und murmelte völlig verwirrt:
„Signorina! Schnell. Kommen Sie mit. Das ist nichts für Sie…"
Der Hoteldirektor im langen weißen Bademantel und ein paar ältere Gäste kamen über die breite Rasenfläche gelaufen. Gabriele schob Karina, die willenlos Schritte machte und eine lähmende Schwäche in den Kniekehlen spürte, vor sich her, auf den Eingang des kleinen Hotels zu, dessen rotweiße Ziegeldächer hinter den Mimosen hervorlugten.
„Was ist passiert?" fragte der Direktor entgeistert.
„Sehen Sie selbst", antwortete Gabriele und zerrte Karina mit sich, bis sie in der leeren Hotelbar standen. Dort drückte er sie in einen Sessel und goß, weil ihm nichts Besseres einfiel, ein Glas Rotwein voll. Karina stierte es an, als habe sie noch nie Wein getrunken.
„Bleiben Sie hier, Signorina Karina", drängte Gabriele. „Ich erledige das…"
Er schwieg verwirrt, weil er zu spüren
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