Bluternte: Thriller
Prolog
3. November
Es war also tatsächlich geschehen. Das, wovon er nur im Nachhinein hätte sagen können, dass er es befürchtet hatte. In gewisser Weise war es fast eine Erleichterung zu wissen, dass das Schlimmste vorbei war. Dass er nicht mehr zu heucheln brauchte. Jetzt musste er vielleicht nicht mehr so tun, als sei dies eine ganz gewöhnliche Kleinstadt, als seien dies ganz normale Leute. Harry atmete tief durch und stellte fest, dass der Tod nach Abflussrohren roch, nach feuchter Erde und Plastikplanen.
Der Schädel, keine zwei Meter entfernt, sah winzig aus. Als könnten ihn seine Finger fast völlig umschließen, wenn er ihn in der Hand hielte. Fast noch schlimmer als der Schädel war die Hand. Sie lag halb verborgen im Schlamm, die Knochen von der Haut kaum noch zusammengehalten, als versuchten sie, aus der Erde hervorzukriechen. Das grelle Kunstlicht flackerte wie ein Stroboskop, und einen Augenblick lang schien die Hand sich zu regen.
Auf der Plastikplane über Harrys Kopf hörte sich der Regen an wie Gewehrfeuer. So hoch oben auf dem Moor blies der Wind beinahe mit Sturmstärke, und die behelfsmäßigen Wände des Polizeizeltes konnten ihn nicht völlig abhalten. Als Harry seinen Wagen geparkt hatte, vor noch nicht einmal drei Minuten, war es 3.17 Uhr gewesen. Es war die dunkelste Stunde der Nacht. Harry wurde klar, dass er die Augen geschlossen hatte.
Detective Chief Superintendent Rushtons Hand lag noch immer auf seinem Arm, obgleich die beiden Männer den Rand der inneren Absperrung erreicht hatten. Näher würde man sie nicht heranlassen. Außer ihnen waren noch sechs weitere Personen in dem Zelt; alle trugen die gleichen weißen Overalls mit Kapuze und die gleichen Gummistiefel wie die, die Harry und Rushton gerade angezogen hatten.
Harry spürte, wie er zitterte. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem beharrlichen, stetigen Trommeln des Regens auf dem Zeltdach. Er konnte noch immer diese Hand sehen. Als er merkte, dass er schwankte, schlug er die Augen auf und verlor beinahe das Gleichgewicht.
»Ein Stückchen zurück, Harry«, wies Rushton ihn an. »Bitte bleiben Sie auf der Matte.« Harry tat wie geheißen. Sein Körper schien mit einem Mal viel zu groß geworden zu sein, die geborgten Stiefel waren unerträglich eng, seine Kleider klebten an ihm, die Knochen seines Schädels fühlten sich zu dünn an. Das Geräusch von Wind und Regen ging weiter, wie der Soundtrack eines billigen Films. Zu viel Licht, zu viel Krach für mitten in der Nacht.
Der Schädel war von dem dazugehörigen Torso fortgerollt. Harry konnte einen Brustkorb sehen, so klein, noch immer bekleidet; winzige Knöpfe schimmerten unter den Lampen. »Wo sind die anderen?«, fragte er.
DCS Rushton neigte den Kopf und führte ihn dann über die Riffelblech-Platten, die wie Trittsteine über den Matsch gelegt worden waren. Sie folgten dem Verlauf der Kirchenmauer. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, mein Junge«, sagte Rushton. »Das ganze Gelände ist eine einzige Schlammsuhle. Da, sehen Sie?«
Sie waren am anderen Ende der Absperrung stehen geblieben. Der zweite Leichnam war noch intakt, sah jedoch nicht größer aus als der erste. Ein winziger Gummistiefel steckte auf seinem linken Fuß.
»Das Dritte liegt an der Mauer«, erläuterte Rushton. »Ist von hier aus schwer zu sehen. Es wird von den Steinen verdeckt.«
»Auch ein Kind?«, wollte Harry wissen. Unbefestigte PVC -Planen des Zeltes schlugen im Wind, und er musste fast schreien, um sich verständlich zu machen.
»Sieht so aus.« Rushtons Brille war von Regentropfen gesprenkelt. Er hatte sie nicht abgewischt, seit sie das Zelt betreten hatten. Vielleicht war er dankbar dafür, nicht deutlich sehen zu können. »Sehen Sie, wo die Mauer eingestürzt ist?«, fragte er.
Harry nickte. Ein ungefähr drei Meter langes Stück der Steinmauer, die die Grenze zwischen dem Grundstück der Fletchers und dem Kirchhof bildete, war eingestürzt, und das Erdreich, das sie zurückgehalten hatte, war wie ein kleiner Erdrutsch in den Garten gerollt. Eine alte Eibe war zusammen mit der Mauer umgestürzt. Im harten künstlichen Licht erinnerte der Baum ihn an das lange Haar einer Frau.
»Als die Mauer umgekippt ist, sind die Gräber am Friedhofsrand beschädigt worden«, sagte Rushton gerade. »Ganz besonders eines, das Grab eines Kindes. Ein kleines Mädchen namens Lucy Pickup. Das Problem ist, laut unseren Plänen lag das Kind allein in dem Grab. Es wurde vor zehn Jahren extra
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