Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Monika oder Helga fügte hinzu: „Oder wir spucken Ihnen einfach in den Glühwein, können Sie auch haben, wenn Sie drauf stehen.“
Jeder der Anwesenden hatte diese nicht gerade geflüsterten Injurien mitbekommen, abrupte Stille trat ein. Das hier war der größte anzunehmende Unfall in einer Kneipe, die Kernschmelze gewissermaßen. Ich bin ein friedlicher Mensch, kultiviert und heikel bei meiner Wortwahl, der gegenwärtige Zustand meines Kopfes zwang mich nun jedoch zu etwas härterem Vokabular.
„Wenn ihr beiden Schnallen nicht gleich den Rand haltet, lass ich hier mal ein paar Fotos rumgehen. Tittenmäßig seid ihr Durchschnitt, die Intimrasur lässt auch zu wünschen übrig.“ Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, leider fiel gerade keine. „Wow“, murmelte Irmi entzückt, „das ist wie beim Sitzstreik im Juli 1968 im Audimax der FU Berlin, als wir den Dekan gedisst haben. Weiter so.“ Sie lehnte sich erwartungsvoll zurück und kippte einen Eierlikör. – Eierlikör?
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Ich wusste nicht, warum die Eierlikör kippende Irmi mich plötzlich in eine wilde Assoziation verstrickte, in der grimmig grinsende Osterhasen Ostereier auspressten, um Eierlikör herzustellen. Sorry, mein Kopf musste daran schuld sein. Die Vorstellung war grotesk, Irmi sei in diese Affäre verwickelt. Sie tat das, was Hunderttausende reifer Damen tagtäglich in einem Zustand geschmacklicher Verzweiflung tun: Sie süffelte eine kulinarische Obszönität und wartete auf den Kick.
Meine Konfrontation mit den wutschnaubenden und zugleich verunsicherten Wirtsschwestern steuerte auf einen zermürbenden Grabenkrieg ohne Landgewinn zu, der die älteren meiner Leser an den 1. Weltkrieg erinnern dürfte. Um uns herum war es noch immer still, die Stecknadel fiel zwar nicht, dafür der Kopf des Krimiautors mit einem dumpfen Geräusch auf die Tischplatte, haarscharf neben das leere Bierglas. Der Mann mochte schreiben können wie der Teufel, beim Saufen hätte ihn jedes Schulmädchen locker übertrumpft.
Es war Irmi, die den Gordischen Knoten mit einem Schlag zertrümmerte. Sie stand auf, legte einen Zehneuroschein auf den Tisch und sagte zu mir: „Komm, hier wird’s ungemütlich, wir bechern bei mir zu Hause weiter.“ Noch bevor ich antworten konnte, sah ich mich am Kragen meiner Jacke ergriffen und hochgezogen, ich trottete hinter der Alten her, warf einen letzten Blick in die Kraterlandschaften der Rentnergesichter, aus denen mir spontane Todfeindschaft entgegenstarrte. Das nächste, an das ich mich erinnere, war die kalte Luft draußen und Irmis beruhigende Stimme, die mich „Bubi“ nannte und versicherte, sie wolle nichts Unanständiges von mir, ich sei ihr entschieden zu alt.
Irmi wohnte in einem schmalen Häuschen in einer ebenso schmalen Gasse am Rande der Fußgängerzone, eine angenehm geräuscharme Gegend, die von abendlichen Zechern nur bisweilen zum Zwecke des sich Erbrechens frequentiert wurde. Wir hatten auf dem Weg geschwiegen, taten es auch jetzt, als wir die Stiege erklommen, eine betagte Holztreppe, die uns zur Begrüßung ein Ständchen quietschte und ächzte.
Doch, sehr nett. Das Mobiliar stammte vom Sperrmüll, an den Wänden hingen Poster von Che, Frank Zappa beim Scheißen, Uncle Sam, der mich mit dem Finger zur Army locken wollte und den drei berühmtesten Deutschen Karl Marx, Friedrich Engels und – nein, sorry, waren nur zwei. „Setz dich“, sagte Irmi und wies auf einen Hocker, den ein ziemlich zerzaustes Fell – Kaninchen? – bedeckte. „Ich schätze, in deinem Alter kennt man noch nicht die Vorzüge des Eierlikörs. Soll ich dir ein Käffchen kochen? Hast das wohl bitter nötig.“
Ich nahm dankbar an, Irmi zockelte küchenwärts, „leg doch ne Platte auf, Mothers of Invention käme jetzt ganz gut, kann auch Grateful Dead sein, Justin Bieber hab ich leider nicht da.“ Ich wählte „Johnny Winter And Live“, knappe neun Minuten entzückte mich der texanische Albino in"Mean Town Blues“ mit seinen Gitarrenkünsten, Zeit genug für schaudernde Gedanken an das Alter (der Bursche saß jetzt im Rollstuhl) und für den Kaffee. Irmi servierte ihn im „Brokdorf NEIN!“ – Becher, schwarz natürlich, schon Rudi Dutschke hielt Milch und Zucker für Zeichen kapitalistischer Dekadenz. Für sich selbst hatte meine Gastgeberin eine halbvolle – halbleere? – Flasche Eierlikör und ein Wasserglas mitgebracht, sie füllte letzteres aus erster bis zum Anschlag, nahm einen kräftigen
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