Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
großen Crash, siehe Atom, siehe Umwelt. Das wusste auch Strontium. Er versammelte die klügsten Köpfe seiner Zeit um sich und gründete – am Morgen des Ostersonntag 1790 – die sogenannte Ostergesellschaft. Ihre Aufgabe sollte es sein, die Geldwirtschaft zum Kollabieren zu bringen, das Land dadurch in unvorstellbares Elend zu stürzen, um auf den Trümmern des Desasters die neue Ordnung einer Gesellschaft ohne Geld zu errichten.“
Sogar Klein machte „pffffff“. Klang aber auch gut, was sich Regitz da aus den Fingern gesaugt hatte. Schon der Name Strontium! Zu abgefahren, um erlogen zu sein. Wer hieß schon Strontium? Weiter im Text. Regitz drückte die Kippe aus.
Der Rainer drückte den Stumpen aus. „Wenn du die ganze Geschichte wissen willst, kann ich dir gerne ein Buch mitgeben, Kerstin.“ Der Konrad, der Irmi bisher kaum beachtet hatte, sah bei der Namensnennung nun genauer hin und verschluckte sich fast am Zigarrenrauch. „Mensch, Kerstin, bist du das? Weißte noch Brokdorf? Wie sie uns geräumt haben, die Bullenschweine?“ Irmi lächelte. Sie war nie in Brokdorf, war doch ihre Hedonismusphase gewesen damals, Hochklimakterium, abtanzen, one-night-stands. „Klar Konrad, jetzt erkenn ich dich erst! Wie geht’s denn so?“ Konrad grinste verschmitzt. „Na wollt ich dich fragen. Immer noch so gut drauf?“ Diesen Blick kannte Irmi. Schlafzimmerblick. Wer auch immer diese Kerstin gewesen war, sie musste ein besonderer Feger gewesen sein. Lieber ablenken. „Und was wurde aus diesem Strontium, Rainer?“
196
Vika und die beiden Männer hatten inzwischen das Café verlassen. Klein, noch immer wortkarg und verwirrt, Regitz, noch immer wortreich und verwirrt. So bummelten sie auf der großen Mauer um die bezaubernde Stadt St. Malo, unter dem hellgrauen bretonischen Himmel, unter der lautstarken Selbstinszenierung kreischenden Möwenpacks, das wider die unruhigen Wasser intonierte und seine Scheiße über den Köpfen der Flanierenden ablud. Regitz redete sich in einen Rausch. Er war kurz davor zu glauben, was er da erzählte.
Der Rainer hatte sich erhoben. Die Angelika und die Luzi waren längst – einen taxierend hämischen Blick auf Irmi zurücklassend – wieder „aufs Feld“ gegangen, der Konrad hockte noch immer am Tisch, in nostalgischer Erinnerung an Brokdorf, Kerstin und garantiert rückstandsfreien Sex versunken. „Komm mal, Kerstin“, sagte der Rainer, „ich zeig dir unser Projekt und erzähl dir dabei noch etwas über die Geschichte des Grafen Strontium.“ Irmi nickte, ihre Knochen protestierten beim Aufstehen. Auch der Konrad tat dies jetzt. Manövrierte sich an Irmis rechte Seite, flüsterte ihr ins Ohr: „Und das mit dem geplatzten Präser war echt kein Malheur? Ich meine, keine Alimente und so?“ „Nee“, flüsterte Irmi zurück, „ich hab die Zwillinge abtreiben lassen. Kein Ding.“ Konrad wurde aschfahl und murmelte: „Jo, war wohl besser so. Kannst doch keine Kinder in diese beschissene kapitalistische Welt setzen, nä?“
„Ja, beschissen“, seufzte Regitz. „Robespierre stand den Ideen des Grafen Strontium mit großer Sympathie gegenüber. Wenn die Menschen kein Brot mehr haben, weil sie sich keins mehr kaufen können, weil sie kein Geld mehr haben – na, dann werden sie eben Kuchen fressen und alles wird gut sein! Nach dem Sturz Robespierre jedoch übernahm das 1. Direktorium am 9. Brumaire des Jahres 4, sprich 1795, die Regentschaft und eines der Mitglieder dieser neuen Regierung, ein gewisser Barras, entpuppte sich als Knecht des Kapitals und wurde zu Strontiums ärgstem Widersacher. Dem er letztlich chancenlos ausgeliefert war. Am 12. Fructidor des Folgejahres stürmte nächtens ein Bataillon Revolutionsgarden das normannische Schloss“
„des Grafen“, sagte der Rainer, nicht ohne ein gewaltiges Seufzen zulassen zu müssen, „und verhaftete die dort Anwesenden, neben Strontium selbst praktisch die Geistesgrößen der Nation, die Vordenker, die Visionäre und alles Schlosspersonal. Nur einer, so jedenfalls geht die Legende, entkam, ein Botenjunge namens Le Pernac, er flüchtete auf einem Fischerboot über den Ärmelkanal auf die Insel Jersey, einen Teil der Aufzeichnungen mit sich führend, die Strontium und die Seinen inzwischen erarbeitet hatten.“
„Die Geschichte endet“, fuhr Regitz fort und wunderte sich, wie leicht es ihm fiel, Geschichtsfälschung zu betreiben, „damit, dass Strontium und der Rest der Ostergesellschaft nach Paris
Weitere Kostenlose Bücher