Und das Leben geht doch weiter
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Steil ragten die Wände des Wettersteingebirges, gekrönt vom Zugspitzmassiv, in den fahlgrauen Schneehimmel. Eingebettet in Felsengestein lag wie eine blinde Spiegelscheibe der zugefrorene Eibsee mit den hingeduckten Häusern am Ufer. Der Schnee gab allem seine Farbe, und nur die kleine Gondel der Seilbahn, die von Obermoss zur Zugspitze, Deutschlands höchstem Berg, hoch durch die Luft zog, hob sich dunkel gegen den fast nebelig-milchigen Hintergrund ab.
Carola Burghardt beschattete mit der Hand die Augen, ihnen Schutz bietend gegen die Blendkraft des Schnees, und spähte ins Tal. Sie war ein bildhübsches Mädchen, 19 Jahre jung, und besaß auch noch das, was außerordentlich attraktiven Damen, ob jung oder alt, leider gar nicht so selten zu fehlen pflegt – Intelligenz. Blondgelockt, blauäugig, schlank, einssiebzig groß, langbeinig, mit einer aufregenden Figur, entsprach sie fast zu sehr dem Schönheitsideal einer Menschheit, die den adäquaten Vorstellungen vergangener Jahrhunderte und ihrer großen Maler (Rubens!) radikal abgeschworen hatte. Wo Carola auftrat, wo sie erschien, weckte sie gefährliche Gefühle: das Begehren der Männer, den Neid ihrer Geschlechtsgenossinnen. (Solcher Neid darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden, ist er doch, wofür die große Weltgeschichte und der kleine menschliche Alltag tausendfach Beispiele parat haben, eine ständige Quelle bösester Intrigen und tödlicher Anschläge.)
Carola Burghardt war also, wenn man so will, eine zwiespältige Existenz. Davon ahnte sie selbst aber nichts. Sie war nämlich auch noch überdurchschnittlich naiv, so naiv, daß es Leute gab, die sich weigerten, ihr das ›abzunehmen‹; das sei eine raffinierte Masche von ihr, sagten die Betreffenden. Die Gutgläubigeren fanden sich bereit zu dem Urteil, sie sei ein romantisches Mädchen.
Paul und Gertrud Burghardt, Carolas Eltern, hatten ihre einzige Tochter zum erstenmal allein in Urlaub ziehen lassen (besser gesagt: in Ferien, denn Carola ging noch zur Schule). Paul Burghardt war Reeder, an Finanzen fehlte es der Familie also nicht. Gertrud Burghard pflegte die Künste, sie ging ins Theater und in die Oper, malte selbst ein bißchen und las Hölderlin. Sie fand die Jugend von heute ›schrecklich‹, besonders die Mädchen, denen man es am allerwenigsten verzeihen konnte, daß sie, wie Frau Burghardt zu sagen pflegte, ›schon bald alle in Kommunen lebten‹. Ihre Carola Gott sei Dank – noch – nicht.
Die Burghardts harmonierten untereinander bestens und rechneten auch nicht damit, daß sich diesbezüglich plötzlich etwas ändern könnte. Sie wohnten in Hamburg. Vater Burghardt hatte Tochter Carola zwischen Weihnachten und Neujahr zum Bahnhof gebracht und sie mit dem Seufzer verabschiedet: »Brich dir bloß nicht die Beine!«
Carola steckte in einem Schianzug feschester Machart, und auf ihren Schultern lagen die dazugehörigen Bretter. Paul Burghardt, ein geborener Küstenmensch, empfand diese bedrohlichen Dinger als Instrumente einer absolut unnatürlichen Art der Fortbewegung. »Die Zeiten sind verrückt«, hatte er erst kürzlich gesagt. »Die Bayern huldigen mehr und mehr dem Segelsport, unsere jungen Leute dagegen wenden sich den Lawinen zu.«
Eine etwas beruhigende Wirkung auf Paul Burghardt ging von der Tatsache aus, daß Carola im Hotel am Eibsee von einem seriösen jungen Mann friesischen Geblüts namens Jens Kosten erwartet wurde, dem man zutrauen durfte, daß er das Mädchen nicht nur vor anderen zu schützen wußte, sondern es auch selbst nicht antastete. Jens war einige Jahre älter als Carola, er studierte Medizin. Karl Kosten senior betrieb einen florierenden Teehandel in Hamburg und hatte seinem Sohn einen flotten Sportwagen gekauft, mit dem dieser in die Berge vorausgefahren war. Die Ehepaare Burghardt und Kosten waren miteinander befreundet. Auf beiden Seiten war man der Meinung, daß Carola, nachdem sie sich unter Jens' Schutz befand, aus den Alpen an Leib und Seele unversehrt zurückkehren würde. In diese Überlegung schien den alten Herrschaften auch die ihnen bekannte Tatsache zu passen, daß Carola und Jens einander schon längst nicht mehr, wie man zu sagen pflegt, gleichgültig waren. Bei Carola hielt sich das entsprechende Gefühl allerdings noch in Grenzen, was man von Jens jedoch nicht behaupten konnte.
Beide hatten getrennte Zimmer, aber der Zeitpunkt, an dem eines davon verwaisen würde, war eigentlich schon abzusehen.
Jens schlief gern
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