Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
seiner Schwester etwas nicht stimmte, wäre es ihm spätestens von seinen Klassenkameraden vor Augen geführt worden, zum Beispiel von Simona Volterra, die, als die Lehrerin in der ersten Klasse Simona, diesen Monat sitzt du mal neben Michela zu ihr sagte, sich trotzig zur Wehr setzte, indem sie die Unterarme über der Brust verschränkte und erklärte: Neben der da will ich nicht sitzen.
Mattia hatte zugehört, wie Simona und die Lehrerin sich eine Weile stritten, bevor er aufstand und erklärte: Ich kann doch neben Michela sitzen bleiben. Alle schienen erleichtert: die da , Simona, die Lehrerin. Alle, bis auf Mattia.
Die Zwillinge saßen in der ersten Bank. Michela malte den ganzen Tag vorgedruckte Zeichnungen aus, wobei sie gewissenhaft über die Umrisse hinaus malte und die Farben nach Gutdünken wählte: die Haut der Kinder blau, der Himmel rot, alle Bäume gelb. Dabei hielt sie den Stift wie einen Fleischklopfer und drückte ihn so fest auf, dass sie mindestens jedes dritte Blatt zerriss.
Mattia neben ihr lernte unterdessen Lesen und Schreiben. Lernte die vier Grundrechenarten und war der Erste in der Klasse, der das Teilen mit Übertrag beherrschte. Sein Gehirn schien ein gut geöltes Räderwerk, auf die gleiche rätselhafte Weise perfekt, wie das der Schwester gestört war.
Manchmal begann Michela, sich auf ihrem Stuhl wild hin und her zu werfen und die Arme auf und ab zu schlagen, wie
ein Nachtfalter in der Falle. Ihr Blick verfinsterte sich, und die Lehrerin stand da und beobachtete sie, mehr erschrocken als Michela selbst und mit der vagen Hoffnung, dass diese Zurückgebliebene eines Tages wirklich abheben und davonfliegen könnte. Der eine oder andere in den hinteren Reihen kicherte, andere machten: Schsch.
Irgendwann dann stand Mattia auf, indem er seinen Stuhl anhob, damit er nicht über den Boden schleifte, stellte sich hinter Michela, die jetzt den Kopf kreisen ließ und so schnell mit den Armen schlug, dass er fürchtete, sie könnten sich vom Körper lösen.
Mattia ergriff ihre Hände und führte ihre Arme sanft über der Brust zusammen.
»Siehst du, jetzt hast du keine Flügel mehr«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Michela brauchte noch eine Weile, bis sie zu zittern aufhörte. Einige Sekunden blickte sie starr ins Leere, dann ließ sie sich auf den Stuhl fallen und machte sich wieder daran, ihre Zeichnungen zu traktieren, als wäre nichts geschehen. Auch Mattia setzte sich wieder, mit gesenktem Kopf und mit vor Scham roten Ohren, während die Lehrerin den Unterricht fortsetzte.
In der dritten Klasse waren die Zwillinge noch kein einziges Mal zu einer Geburtstagsfeier eines Mitschülers eingeladen worden. Ihrer Mutter war das aufgefallen, und so gedachte sie, das Problem mit der Ausrichtung einer eigenen Feier zum Geburtstag der beiden zu lösen. Beim Mittagessen jedoch wurde der Vorschlag einkassiert. »Um Himmels willen, Adele«, sagte Signor Balossino, »die Sache ist doch schon traurig genug.« Mattia stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und Michela ließ zum zehnten Mal die
Gabel in den Teller fallen. Danach war nie mehr darüber gesprochen worden.
Dann, eines Morgens im Januar, trat Riccardo Pelotti, der mit den roten Haaren und den Pavianlippen, an Mattias Bank. »Pass auf, meine Mutter hat gesagt, du darfst auch zu meinem Geburtstag kommen«, verkündete er in einem Atemzug, den Blick zur Tafel gerichtet.
»Und sie auch«, fügte er hinzu, indem er auf Michela zeigte, die damit beschäftigt war, die Tischplatte wie ein Leinentuch sorgfältig glatt zu streichen.
Mattias Gesicht begann vor Erregung zu kribbeln. »Danke«, antwortete er, doch Riccardo, erleichtert, es hinter sich gebracht zu haben, war schon wieder fort.
Unverzüglich schritt die Mutter der Zwillinge zur Tat und machte sich mit den beiden zu Benetton auf, um sie dort neu einzukleiden. Drei Spielzeugläden klapperten sie ab, weil Adele sich nicht recht entscheiden konnte.
»Womit spielt Riccardo denn gern? Meinst du, das macht ihm Spaß?«, fragte sie Mattia, indem sie ein Puzzle mit tausendfünfhundert Teilen in der Hand wog.
»Woher soll ich denn das wissen?«, antwortete ihr Sohn.
»Er ist doch dein Freund. Da musst du doch wissen, was er mag.«
Mattia dachte, dass Riccardo sicher nicht sein Freund war. Aber das hätte er seiner Mutter schlecht klarmachen können. So zuckte er nur mit den Achseln.
Schließlich entschied Adele sich für das Lego-Raumschiff, den größten und teuersten Karton der ganzen
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