Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
mit denen sie hässlichen Tischschmuck gebastelt hatten, wie man ihn Opa und Oma schenkte.
»Jetzt hör mal gut zu, Michi«, sagte Mattia. »Hörst du mir zu?«
Bei Michela musste man sich immer vergewissern, dass ihr enger Kommunikationskanal tatsächlich geöffnet war. Mattia wartete auf ein bejahendes Nicken seiner Schwester.
»Okay. Also, ich hab was zu tun und muss fort. Aber ich bleib nicht lange weg, vielleicht ein halbes Stündchen«, erklärte er ihr.
Es gab keinen Grund, ihr die Wahrheit zu sagen, denn ein halbes Stündchen oder ein ganzer Tag, das war für Michela kaum ein Unterschied. Die Logopädin hatte erklärt, dass die Entwicklung ihrer zeitlichen und räumlichen Wahrnehmung in einem vorbewussten Stadium stehen geblieben sei, und Mattia hatte genau verstanden, was sie damit meinte.
»Du bleibst also hier sitzen und wartest auf mich«, sagte er.
Michela schaute den Bruder mit ernster Miene an, ohne etwas zu antworten, denn antworten konnte sie nicht. Es war nicht zu erkennen, ob sie die Anweisung verstanden hatte, aber einen Moment lang leuchtete etwas in ihren Augen, und sein ganzes Leben lang würde dieser Blick für Mattia das Sinnbild von Angst bleiben.
Langsam entfernte er sich von seiner Schwester, rückwärtsgehend, um sie beobachten zu können und sicher zu sein, dass sie ihm nicht folgte. So laufen nur Krebse, hatte ihn seine Mutter einmal zurechtgewiesen, und es endet immer damit, dass sie irgendwo anstoßen.
Vielleicht fünfzehn Meter trennten sie nun, und Michela hatte schon den Blick abgewandt, ganz in das Vorhaben vertieft, einen Knopf von ihrem Wintermantel zu lösen.
Mattia drehte sich um und begann zu laufen, die Tüte mit dem Geschenk darin fest in der Hand. Mehr als zweihundert Plastikklötzchen schlugen in dem Karton gegeneinander und schienen ihm etwas sagen zu wollen.
»Ciao, Mattia«, empfing ihn Signora Pelotti, die die Tür öffnete. »Und wo ist dein Schwesterchen?«
»Die hat Fieber«, log Mattia. »Nicht sehr hoch.«
»Ach, das ist aber schade«, antwortete die Signora, ohne allerdings im Mindesten betrübt zu wirken. Sie trat zur Seite, um ihn hereinzulassen.
»Ricky, dein Freund Mattia ist da. Komm, sag ihm Guten Tag«, rief sie in den Flur hinein.
Mit einem langen Rutscher über den Fußboden und seinem unsympathischen Gesicht kam Riccardo Pelotti herangerauscht. Eine Sekunde lang stand er schweigend vor Mattia und schien nach Spuren von Mattias Schwester zu suchen. Erst dann sagte er, erleichtert Ciao .
Mattia hob die Tüte mit dem Geschenk und hielt sie der Mutter vor die Nase.
»Wohin damit?«
»Was ist denn da drin?«, fragte Riccardo skeptisch.
»Lego.«
»Aha.«
Riccardo griff sich die Tüte und verschwand wieder im Flur.
»Geh mit ihm«, sagte die Signora, indem sie Mattia vor sich herschob. »Wir feiern da hinten.«
Das Wohnzimmer der Familie Pelotti war mit Girlanden und Luftballons geschmückt. Auf einem Tisch mit einer roten Papiertischdecke standen Schüsseln voll Popcorn und Kartoffelchips, ein Blech mit in quadratische Stücke geschnittener, unbelegter Pizza und eine Reihe noch ungeöffneter Flaschen mit Erfrischungsgetränken in verschiedenen Farben. Einige von Mattias Klassenkameraden waren bereits eingetroffen und hatten sich vor dem Tisch aufgebaut, als müssten sie ihn bewachen.
Mattia trat ein paar Schritte auf die anderen zu und blieb dann, wie ein Satellit, der nicht zu viel Platz am Himmel beanspruchen möchte, in einigem Abstand vor ihnen stehen. Niemand beachtete ihn.
Als das Wohnzimmer voll war, kam ein junger Bursche um die zwanzig hinzu, mit einer roten Plastiknase und einer Clownsmelone auf dem Kopf, und ließ die Kinder erst Blindekuh spielen und dann Eselsschwanz. Bei diesem Spiel mussten sie versuchen mit verbundenen Augen einem auf ein Blatt gemalten Esel einen Schwanz anzuhängen. Mattia gewann das Spiel und den Preis, der in einer Handvoll Karamellbonbons bestand, aber nur, weil er unter der Binde durchschielen konnte. Alle schrien: Buh! Du hast geschummelt, während er sich voller Scham die Süßigkeiten in die Tasche steckte.
Als es draußen dunkel war, ließ der Clown alle Lichter löschen und forderte die Kinder auf, sich im Kreis auf den Boden zu setzen. Er erzählte ihnen eine Schauergeschichte, wobei er sich eine eingeschaltete Taschenlampe unters Kinn hielt.
Die Geschichte macht einem keine Angst, dachte Mattia, wohl aber das Gesicht. Durch das Licht von unten sah es rötlich aus und war überzogen
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