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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Krankenschwester trommelte mit ihrem Kuli auf dem Aufnahmebuch, das vor ihr lag, herum.
    »Tut mir leid. Aber das ist wirklich unmöglich«, erwiderte sie entnervt.
    Alice stieß die Luft aus und machte Anstalten, sich von dem Schalter zu entfernen, trat dann aber noch einmal heran.
    »Ich bin die Frau von Doktor Rovelli«, sagte sie.
    Sofort richtete sich die Schwester ein wenig auf. Sie zog die Augenbrauen hoch und begann wieder, mit ihrem Stift auf dem Register herumzutrommeln.
    »Ach so«, nickte sie. »Gut, dann sag ich Ihrem Mann doch am besten Bescheid …«
    Sie nahm den Hörer ab, um eine Nummer im Haus zu wählen, doch Alice bremste sie mit einer Handbewegung.
    »Nein«, rief sie, ohne auf ihren Tonfall zu achten. »Das ist nicht nötig.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ja, danke. Lassen Sie nur.«
     
    Sie machte sich auf den Weg nach Hause. Die ganze Strecke über konnte sie an nichts anderes denken. Alle Bilder, die ihr durch den nun wieder klarer werdenden Kopf gingen, wurden sofort vom Gesicht dieser jungen Frau verdrängt. Obwohl die Einzelheiten bereits verschwammen, in einem Ozean anderer, bedeutungsloser Erinnerungen rasch versanken, blieb dieses unerklärliche Gefühl der Vertrautheit lebendig. Und dieses
Lächeln, das sie so gut von Mattia kannte, in regelmäßigen Abständen durchsetzt von ihrem eigenen Spiegelbild auf der Glasscheibe.
    Vielleicht lebte Michela, und sie hatte sie vorhin tatsächlich gesehen. Die Vorstellung war absurd, doch Alice schaffte es nicht, sie als unmöglich abzutun. So als verlange ihr Gehirn verzweifelt nach gerade diesem Gedanken, so als klammere sie sich daran, um sich lebendig zu fühlen.
    So begann sie, die Sache genauer zu durchdenken, Hypothesen zu entwickeln, zu rekonstruieren, was tatsächlich vorgefallen sein könnte. Vielleicht hatte die alte Frau Michela damals im Park gefunden und sie einfach mitgenommen, weil sie sich sehnlich ein kleines Mädchen wünschte, aber selbst keine Kinder bekommen konnte. Vielleicht weil mit ihrem Unterleib etwas nicht stimmte, oder weil sie dort nicht ein wenig Platz machen wollte.
    Genau wie ich, dachte Alice.
    Sie hatte sie also entführt und dann irgendwo großgezogen, in einer anderen Gegend und unter einem anderen Namen, als wäre Michela tatsächlich ihr eigenes Kind.
    Aber warum ist sie dann hierher zurückgekehrt? Warum ist sie das Risiko eingegangen, dass die Sache nach all den Jahren noch auffliegen könnte? Waren es Schuldgefühle, die sie quälten? Oder wollte sie ganz einfach das Schicksal herausfordern, so wie sie selbst vor der Eingangstür zu Fabios Abteilung?
    Aber vielleicht hatte die Alte auch gar nichts mit der Sache zu tun. Möglich, dass sie Michela erst lange Zeit nach deren Verschwinden kennengelernt hatte und gar nichts von ihrer Herkunft wusste, ihrer wahren Familie, so wie Michela selbst sich an nichts aus ihrem früheren Leben erinnerte.
    Alice dachte an Mattia, wie er damals aus dem Innenraum
ihres alten Autos auf die Baumreihen vor ihnen gezeigt hatte, mit diesem versteinerten, abwesenden Blick, der an den Tod erinnerte. Sie sah genauso aus wie ich , hatte er gesagt.
    Plötzlich schien ihr alles zusammenzupassen. Diese junge Frau im Krankenhaus musste tatsächlich Michela sein, Mattias verschollene Zwillingsschwester, jede Einzelheit stimmte: die in die hohe Stirn hängenden Haare, die langen Finger und diese bedächtige Art, sich zu bewegen. Und dann dieses kindliche Spiel, ja, das vor allem.
    Doch nicht lange, und sie fühlte sich wieder nur furchtbar verwirrt. Alle Einzelheiten verschwammen in dieser seltsamen Erschöpfung, die vom Hunger herrühren musste, der schon seit Tagen ihre Schläfen zusammenpresste, und Alice fürchtete, erneut in Ohnmacht zu fallen.
    Zu Hause angekommen, ließ sie die Tür angelehnt und die Schlüssel im Schloss stecken. Sie ging in die Küche, und ohne auch nur die Jacke abzulegen, öffnete sie die Speisekammer, fand eine Büchse Thunfisch und aß ihn direkt aus dem Blech, verzichtete sogar darauf, das Öl abzugießen. Der Geschmack ekelte sie. Sie warf die leere Büchse ins Spülbecken und griff zu einer Dose Erbsen. Mit der Gabel fischte sie die Erbsen aus der trüben Brühe und verschlang, ohne Luft zu holen, die halbe Dose. Sie schmeckten nach Sand, und die glatten Schalen blieben ihr zwischen den Zähnen hängen. Dann griff sie zu der Kekstüte, die seit dem Tag, als Fabio gegangen war, geöffnet auf der Anrichte lag. Fast ohne zu kauen, stopfte sie sich nacheinander

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