Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
wäre er gerade noch einmal frisch gebrochen. Alice verlagerte ihren Körper ganz auf das rechte Bein und hielt mühsam das Gleichgewicht, indem sie sich mit einer Hand an der rauen Mauer zu einer Seite abstützte.
Sie wartete, dass der Schmerz abklang, dass das Bein so taub wie gewohnt und das Atmen wieder ein unbewusster Vorgang wurde. Nur langsam, fast stockend pumpte ihr Herz das Blut durch den Kreislauf, obwohl es bis in die Ohren pochte.
Du musst zu Fabio oder zu einem anderen Arzt . Crozzas Worte gingen ihr wieder durch den Kopf.
Und was bringt das, dachte sie.
Sie machte kehrt und bewegte sich nun in Richtung Krankenhaus, schleppend und zögernd. Instinktiv bestimmte ihr Körper den Weg, den sie zu gehen hatte, und die Passanten, die ihr entgegenkamen, machten ihr Platz, denn Alice schwankte ein wenig, ohne dass sie es merkte. Einer blieb auch stehen und überlegte wohl, ob er ihr seine Hilfe anbieten sollte, setzte dann aber seinen Weg fort.
Alice betrat den Hof des Maria-Ausiliatrice-Krankenhauses und dachte nicht daran, wie sie damals mit Fabio genau diesen Weg entlangspaziert war. Sie fühlte sich, als habe sie gar keine Vergangenheit, als habe es sie an diesen Ort verschlagen, ohne dass sie überhaupt wüsste, woher sie kam. Sie fühlte eine Erschöpfung, wie sie nur aus der Leere entsteht.
Sich am Handlauf festhaltend, stieg sie die Treppe hinauf und blieb vor dem Eingang stehen. Weiter wollte sie nicht, wollte nur noch die Schiebetür der Abteilung in Gang setzen und dann einige Minuten warten, bis sie wieder genügend Kraft haben würde, um ihrer Wege zu gehen. Indem sie sich ein wenig dort aufhielt, wo Fabio zu finden war, gab sie dem Zufall einen kleinen Schubs, mehr nicht, dann würde sich zeigen, was passierte. Sie würde nicht tun, was Crozza ihr geraten hatte, würde sich von niemandem etwas sagen lassen und noch nicht einmal sich selbst eingestehen, ob sie tatsächlich hoffte, ihren Mann zu treffen.
Es passierte nichts. Die Automatiktüren gingen auf, und als Alice einen Schritt zurückwich, schlossen sie sich wieder.
Was hast du erwartet, fragte sie sich.
Sie überlegte, sich einen Moment hinzusetzen, in der Hoffnung,
dass es ihr gleich besser gehen würde. Ihr Körper verlangte etwas von ihr, jeder Nerv flehte laut schreiend danach, doch sie war nicht bereit, darauf einzugehen.
Gerade als sie sich abwenden wollte, hörte sie wieder das elektrische Summen der Automatiktür. Sie sah auf, in der Erwartung, diesmal wirklich ihren Mann vor sich zu haben.
Der Eingang stand offen. Doch von Fabio keine Spur. Stattdessen stand hinter der Schwelle ein junges Mädchen. Sie hatte den Sensor ausgelöst, kam aber nicht heraus. Sie stand nur da und strich sich den Rock glatt. Dann tat sie es Alice nach: Sie trat einen Schritt zurück, und die Türen schlossen sich wieder.
Neugierig geworden, betrachtete Alice das Mädchen und stellte fest, dass es so jung gar nicht war. Die Frau mochte ungefähr in ihrem Alter sein. Ihr Oberkörper war leicht nach vorn gebeugt, und ihre schmalen Schultern hingen durch. Irgendwie kam sie Alice vertraut vor, vielleicht durch ihren Gesichtsausdruck, aber sie vermochte sie nicht einzuordnen.
Dann wiederholte die Frau die Prozedur noch einmal: trat vor, stellte die Füße nebeneinander, wartete und wich zurück.
In diesem Moment hob sie den Kopf und lächelte Alice durch die Glasscheibe hindurch an.
Ihr lief ein Schauer über den Rücken, Wirbel für Wirbel, bis hinein in das steife Bein, und der Atem stockte ihr.
Sie kannte einen Menschen, der genauso lächelte, indem er nur die Oberlippe verzog und dabei gerade einmal die Schneidezähne entblößte, während sich der Rest des Mundes nicht bewegte.
Das ist doch unmöglich, dachte sie.
Sie trat näher, um besser sehen zu können. Die Automatiktüren schlossen sich nicht, und die Frau schien enttäuscht zu
sein und schaute Alice fragend an. Die verstand und ging wieder einen Schritt zurück, damit das Spiel weitergehen konnte. Und als wenn nichts geschehen wäre, fuhr die Frau fort.
Sie hatte dasselbe dunkle, unten gelockte Haar, das Alice nur so selten berührt hatte. Die Wangenknochen standen ein wenig hervor und verdeckten die schwarzen Augen, doch als Alice sie genauer betrachtete, erkannte sie die gleichen Wirbel, die sie manches Mal bis spät in die Nacht wach gehalten hatten, das gleiche matte Leuchten, das sie von Mattias Augen kannte.
Das ist sie, dachte sie, und ein Gefühl, das Entsetzen ähnlich
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