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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Wagen trug, und während der Fahrt würden sie versuchen, einander zu erzählen, wie ihr Leben verlaufen war, vergeblich, so als ließe sich das wirklich in Worten zusammenfassen. Mattia auf dem Rücksitz und die beiden vorn: drei Fremde, die so taten, als verbände sie etwas, und an der Oberfläche der Dinge kratzten, um ein Schweigen zu vermeiden.
    Das hat überhaupt keinen Sinn, sagte er sich.
    Diese Einsicht erleichterte ihn ein wenig, als fände er nach einer kurzen Gedächtnisstörung nun wieder zu sich. Mit dem Zeigefinger trommelte er auf dem Foto herum, schon im Begriff,
es gleich wegzustecken und zu Alberto zurückzukehren, um die Arbeit wiederaufzunehmen.
    Während er noch so dasaß, kam Kirsten Gorbahn vorüber, eine Postdoktorandin aus Dresden, mit der er einige seiner letzten Artikel veröffentlicht hatte, trat zu ihm und schaute ihm über die Schulter, um einen Blick auf das Foto zu werfen.
    »Deine Frau?«, fragte sie fröhlich, indem sie auf Alice zeigte.
    Mattia legte den Kopf in den Nacken und schaute zu der über ihn gebeugten Kirsten auf. Am liebsten hätte er das Foto versteckt, doch das wäre unhöflich gewesen, dachte er. Kirsten hatte ein auffallend längliches Gesicht, als habe ihr jemand sehr fest am Kinn gezogen. In den zwei Jahren ihres Studiums in Rom hatte sie ein wenig Italienisch gelernt und sprach es mit stets geschlossenem o .
    »Ciao«, sagte Mattia unsicher. »Nein, das ist nicht meine Frau. Nur … eine Freundin.«
    Kirsten kicherte vergnügt, ohne ersichtlichen Grund, und nahm einen Schluck Kaffee aus dem Styroporbecher, den sie in Händen hielt.
    » She’s cute «, bemerkte sie.
    Ein wenig verlegen schaute Mattia sie an und betrachtete dann wieder das Foto. Ja, sie war wirklich hübsch.

42
    Als Alice wieder zu sich kam, war eine Krankenschwester gerade dabei, ihren Puls zu messen. Sie lag, ein wenig quer und mit den Schuhen noch an den Füßen, auf einem weißen Leinentuch auf einer Liege neben dem Eingang. Sofort fiel ihr Fabio ein und dass er sie vielleicht in ihrem erbärmlichen Zustand gesehen hatte, und sie richtete sich abrupt auf.
    »Es ist nichts. Mir geht’s gut«, sagte sie.
    »Bleiben Sie bitte liegen«, befahl ihr die Krankenschwester. »Das müssen wir uns genauer anschauen.«
    »Nicht nötig. Wirklich. Mir geht’s gut«, beharrte sie und überwand den Widerstand der Krankenschwester, die sie niederzuhalten versuchte. Von Fabio war nichts zu sehen.
    »Seien Sie doch vernünftig, Sie waren ohnmächtig. Sie müssen sich von einem Arzt untersuchen lassen.«
    Doch Alice war bereits aufgestanden und sah sich nach ihrer Handtasche um.
    »Ich habe nichts. Glauben Sie mir.«
    Die Krankenschwester hob die Augen zum Himmel und
widersetzte sich nicht mehr. Verloren, so als suche sie jemanden, schaute sich Alice um. Dann bedankte sie sich und entfernte sich eilig.
    Der Sturz war halb so wild gewesen. Sie hatte sich wohl einen Bluterguss am rechten Knie zugezogen, denn sie spürte das rhythmische Pulsieren unter ihrer Jeans. Ihre Hände waren voller Kratzer und dreckig, als wäre sie über den Kies im Hof geschlittert. Sie blies darüber, um sie ein wenig zu säubern.
    Schließlich schleppte sie sich zur Pförtnerloge und beugte sich zu dem runden Fensterchen im Glas vor. Die Dame auf der anderen Seite hob den Blick.
    »Guten Tag«, begann Alice. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr Anliegen erklären sollte. Sie wusste ja noch nicht einmal, wie lange sie ohnmächtig gewesen war.
    »Vorhin …«, versuchte sie es, »habe ich dort gestanden …«
    Sie deutete auf die Stelle, wo sie sich befunden hatte, doch die Dame sah nicht hin.
    »Dort beim Eingang war auch eine junge Frau … Aber dann wurde mir schlecht, und ich bin in Ohnmacht gefallen. Nun … also, ich müsste irgendwie herausfinden, wie diese Frau heißt …«
    Die Angestellte hinter der Glasscheibe blickte sie verwirrt an.
    »Wie bitte?«, fragte sie, indem sie abschätzig das Gesicht verzog.
    »Ja, ich weiß, das hört sich seltsam an«, ließ Alice nicht locker. »Aber vielleicht können Sie mir helfen. Wenn Sie mir die Namen der Patienten geben könnten, die heute hier einen Termin hatten, die zu Untersuchungen gekommen sind … Auch nur die der Frauen, das würde mir schon reichen …«

    Die Dame musterte sie aufmerksam und sagte dann mit einem kalten Lächeln: »Wir sind nicht befugt, derartige Informationen weiterzugeben.«
    »Es ist aber sehr wichtig. Ich bitte Sie. Es ist wirklich äu-ßerst wichtig.«
    Die

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