Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
war, schnürte ihr die Kehle zu.
Instinktiv tastete sie in ihrer Handtasche nach ihrem Fotoapparat, aber sie hatte noch nicht einmal eine simple Automatikkamera dabei.
Unentwegt starrte sie auf die Frau und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr schwindelte, und immer wieder verschleierte sich ihr Blick, so als gelinge es den Linsen nicht, die passende Krümmung zu finden. Ihre trockenen Lippen formten den Namen Michela , doch ihr fehlte die Luft, um ihn auszusprechen.
Die junge Frau schien von ihrem Spiel nicht genug zu bekommen. Wie ein kleines Mädchen spielte sie mit den Fotozellen. Jetzt war sie dazu übergegangen, vor und zurück zu hüpfen, so als wolle sie die Glastür überlisten.
Da näherte sich eine ältere Dame durch den Flur im Innern des Gebäudes. Aus ihrer Handtasche ragte ein großer, gelber Umschlag hervor, der vielleicht Röntgenaufnahmen enthielt. Ohne ein Wort fasste sie die junge Frau am Arm und führte sie hinaus.
Die wehrte sich nicht. Als sie an Alice vorüberkamen,
drehte sie sich noch einmal kurz zu den Schiebetüren um und blickte sie an, als wolle sie sich bei ihnen für das Spiel bedanken. So dicht war sie jetzt neben ihr, dass Alice den Luftzug ihres Körpers spürte. Wenn sie eine Hand ausgestreckt hätte, hätte sie sie berühren können, doch sie war wie gelähmt.
Nur ihr Blick folgte den beiden Frauen, die sich mit langsamen Schritten entfernten.
Unterdessen war es voller geworden, Leute kamen und gingen, und mehrmals öffneten und schlossen sich die Türen, ein hypnotisierendes An- und Abschwellen, das durch Alices Kopf hallte.
»Michela«, rief sie, so als finde sie plötzlich zu sich, und diesmal kam ihr der Name tatsächlich laut über die Lippen.
Die junge Frau drehte sich nicht um und ebenso wenig die ältere Dame in ihrer Begleitung. Sie gingen ungerührt weiter, als hätten sie mit diesem Namen absolut nichts zu schaffen.
Alice dachte, dass sie ihnen folgen, sich die Frau genauer ansehen sollte, mit ihr reden, die Sache klären. Sie setzte den rechten Fuß auf die erste Stufe und wollte das andere Bein nachziehen, doch es war eingeschlafen und blieb wie angewurzelt an seinem Platz. So verlor sie das Gleichgewicht, ihre Hand suchte den Handlauf und fand ihn nicht. Wie ein abgebrochener Ast sank sie nieder und glitt die beiden restlichen Stufen hinunter.
Am Boden liegend sah sie gerade noch, wie die beiden Frauen hinter einer Ecke verschwanden. Dann spürte sie, wie die Luft feuchter und feuchter wurde und alle Geräusche immer weicher und entfernter klangen.
41
Zu Fuß hastete Mattia die drei Stockwerke hinunter. Zwischen dem ersten und dem zweiten Stock stieß er auf einen seiner Studenten, der ihn etwas fragen wollte. Tut mir leid, aber ich hab’s wirklich eilig, rief er und wäre fast ins Straucheln geraten, als er einen Schritt zur Seite machte, um ihm auszuweichen. In der Vorhalle angekommen, verlangsamte er ein wenig, um kein Aufsehen zu erregen. Der dunkle Marmorboden glänzte und spiegelte wie eine glatte Wasserfläche Menschen und Dinge wider. Mit einer Handbewegung grüßte Mattia den Pförtner und war schon draußen.
Was habe ich eigentlich vor, fragte er sich, als ihn plötzlich die kalte Luft umfing.
Er setzte sich auf das Mäuerchen vor dem Eingang und dachte nun darüber nach, warum er so aufgeschreckt reagiert hatte, so als habe er in all den Jahren nichts anderes getan, als auf ein Signal zur Rückkehr zu warten.
Erneut betrachtete er das Foto, das Alice ihm geschickt hatte. Sie beide waren darauf zu sehen, vor dem Bett ihrer
Eltern, wie ein Brautpaar zurechtgemacht, in diesen nach Mottenpulver riechenden Kleidern. Er selbst machte eine resignative Miene, während Alice lächelte. Einen Arm hatte sie um seine Taille gelegt, der andere hielt die Kamera und verschwand teilweise aus dem Bild, was Mattia so vorkam, als strecke sie den Arm zu ihm, dem nun Erwachsenen aus, um ihn zu streicheln.
Auf die Rückseite hatte Alice bloß eine Zeile geschrieben, und darunter ihre Unterschrift.
Du musst herkommen.
Ali
Mattia suchte nach einer möglichen Erklärung für diese Nachricht und mehr noch für seine kopflose Reaktion. Dann stellte er sich vor, wie er in der Ankunftshalle des Flughafens durch die Tür trat und Alice und Fabio hinter der Absperrung auf ihn warteten. Wie er sie zur Begrüßung auf die Wangen küsste und ihrem Mann dann die Hand schüttelte und sich vorstellte. Zum Schein würden sie sich darum streiten, wer seinen Koffer bis zum
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