Die Eisläuferin
Abenteuerlust. Es war nichts weiter als ein Reflex, nahm sie an, ein Selbstheilungsprozess ihres Körpers. Dem musste sie sich fügen, ohne Rücksicht auf sich und andere, denn dies sei ihre einzige Chance, befand sie. Und da sie das, was sie machte, mit großer Hingabe machte, wurde sie mit der Zeit zum reinsten Erinnerungs-Junkie.
Es gab skeptische wie begeisterte Stimmen zum neuen Wagemut der Regierungschefin, völlig verständnislose Kommentare aus dem engsten Kreis, ärgerliche Meinungsäußerungen aus der Fraktion und von einigen Ministerpräsidenten, die darin den Versuch einer allzu durchschaubaren, frühen Wahlkampfkampagne sahen, die einzig und allein auf das Überraschungsmoment setze. Die Vertreter der Opposition gaben vor, sich dazu gar nicht mehr äußern zu wollen, und taten es doch demonstrativ, indem sie kopfschüttelnd vor die Kameras traten und sagten, sie wollten sich dazu nun |234| wirklich nicht äußern. Zuletzt hatte jemand von ihnen unter einem Baum gesessen, auf einem wetterfesten Outdoormöbel in natürlicher Farbgebung, als er sagte, er wolle sich nicht äußern.
Was man jedoch nicht öffentlich erwähnte, um nicht den Verdacht schnöder Schnüffelei aufkommen zu lassen, war die Tatsache, dass die Opposition bei ihren Recherchen bezüglich der Moskauflüge einen entscheidenden Schritt weitergekommen war. Man hatte herausgefunden, dass der engste Kreis um die Regierungschefin zu dritt nach Moskau und zurück geflogen war, und es hatte sich auch ein Flug der Regierungschefin und ihres Mannes von Moskau in die Heimat finden lassen, wenn auch etwas später. Eigenartig erschien nur, dass sich partout kein Hinflug der beiden recherchieren ließ. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemutmaßt, dass diese seltsam agierende Frau unter Umständen gar nicht die war, die zu sein sie vorgab, sondern vielleicht eine geschickt operierende russische Spionin mit dem klaren Auftrag, der Regierungsphase nun endlich ein Ende zu setzen, während die wahre Chefin verschleppt in einem Erdloch im Hochtaunuskreis oder sonstwo steckte. Sollte sich diese Vermutung als wahr erweisen, wäre das durch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geprägte System akut bedroht, von fremden Regierungen unterwandert. Das einzig Positive daran war, dass sich der MAV nun nicht mehr ganz so allein vorkam mit seinem Verdacht.
Doch die Bestätigung seiner eigenen Mutmaßungen ließ ihn erstaunlich kalt, denn mittlerweile hatte er eine neue Baustelle: eine hoch emotionalisierte Chefin – ob in Moskau ausgetauscht oder nicht –, die partout da bleiben wollte, wo sie war, auch wenn sie es zwischendurch immer wieder vergaß. Sie wollte nichts mehr wissen vom Leugnen, erst recht nicht vom Rücktritt. Genauso gut hätte man einen Affen |235| bitten können, sich nicht mehr zu kratzen. Seine Übergangslösung hatte gute Chancen, zur Dauerlösung zu werden. Es war nicht auszudenken, was das bedeutete.
»Hat irgendjemand eine Idee, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen? Die zweite Liga und die Medienberatung stehen Kopf, kann ich Ihnen sagen.« Der MAV hatte somit das Thema für die gerade begonnene Morgenrunde gesetzt.
»Wie weit sind Sie mit dem Wissenschaftsrat und der Reise nach Moskau?« Die Büroleiterin strich sich den Rock glatt.
»Muss noch protokollarisch geklärt werden, die haben alle so schnell keine Zeit, wir lassen von den Sekretariaten gerade sämtliche Terminkalender umwerfen. Wir werden uns erkenntlich zeigen müssen, befürchte ich, wird nicht ganz billig.« Er kam zurück zum Thema: »Was hat sie alles auf der Agenda stehen diese Woche?«
»Diverse interne Sitzungstermine und die Ruderbootpartie mit dem Kirchenmann.«
»Wie bitte?«
Die Büroleiterin verwies auf die konservativen Stammwähler, die man glaubte verloren zu haben und noch einsammeln wolle durch eben jenen Termin mit der Kirche. Ob sich daran jetzt etwas geändert habe, wollte sie wissen.
Man erinnerte sich. Ja, man hatte lange gesucht nach einer seriösen Person, die das verkörperte, was die Regierungschefin weniger denn je verkörperte, eine Person, die jenen christlichen Geist mitbrachte, den ihre Sparpläne vermissen ließen. Die Wahl war auf einen Vertreter der Bischofskonferenz gefallen, der seinerseits bereit war, mit ihr in einen öffentlichen Dialog einzutreten: »Politik trifft Kirche«.
Der MAV rollte mit den Augen: »Was machen wir jetzt? |236| Und dann gleich in einem Ruderboot, weiß Gott, was ihr da wieder alles
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