Die Eisläuferin
dahin müssen, wohin ihre Frauen sie buchen – ein recht populäres nationales Problem. Ja, so betrachtet, hätte man einfach annehmen können, sie sei lediglich eine von Millionen von Frauen, die Millionen von Männern Rätsel aufgeben – Teil eines Massenphänomens also und somit unauffällig, völlig unauffällig, geradezu wohltuend normal.
Doch nichts war normal. Nun saß auch schon der Sicherheitsbeamte gemütlich mit ihnen zusammen, denn er wurde |8| immer am zweiten Abend eingeladen. Sie schenkte ein weiteres Mal nach, und wie es aussah, würde sie ihren Plan tatsächlich durchziehen.
»Mein Lieber, du sagst ja gar nichts.«
Er hasste Kosenamen. Sie waren unpräzise, unerwachsen, überflüssig, griffen die ganze Komplexität seiner Selbstbestimmung an. Beruhigend war lediglich, dass sie sie genauso hasste wie er. Aber man hatte ihnen geraten, sich diese unverfänglichen verbalen Vertrautheiten außerhalb der eigenen vier Wände anzugewöhnen, als Alternative zu ihren Vornamen, die zwar erwachsen, aber eben auch verdächtig präzise waren. Ja, hier fing bereits die Schizophrenie ihres Lebens an.
»Nun ja, die Müdigkeit kommt meistens am zweiten Tag, und du bist ja im Training, nicht wahr, Liebes? Ich überlege auch gerade, ob ich heute Abend noch eine Mail ins Institut schicken sollte.« Er versuchte, ein Gähnen vorzutäuschen, reckte die Arme nach hinten, und sein über die Schultern geworfener Pulli fiel zu Boden.
»Schick denen doch eine SMS. Morgen. Gleich um sieben Uhr.« Sie zwinkerte ihm zu. Das konnte sie gut. Eine SMS mit den Augen.
»Nein, nein. Ich bringe es lieber gleich hinter mich. Entschuldigen Sie mich, Herr Bodega.« Er legte die Unterarme auf die Lehnen des schweren Korbsessels, wollte ihn anheben, fand keinen Halt mit den Händen und schob ihn mühevoll nach hinten. Ein schrilles Quietschen ging durch den Innenhof. Niemand würde es hören.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Herr Professor. Und nochmals vielen Dank für die Einladung. Vergessen Sie Ihren Pulli nicht.« Und schon hatte er sich gebückt.
Herr Bodega war seit vier Jahren einer der Sicherheitsbeamten seiner Frau und für den Bereich »Freizeit und |9| Urlaub« zuständig. Er war nett und jung, aber nicht zu nett und nicht zu jung. Er sah gut aus, aber nicht zu gut, konnte ihr nahe kommen und doch Teil der wortlosen Menge sein. Es war sein Job, professionell intim zu sein, immer an ihrer Seite und doch auf Abstand. So etwas gab es noch nicht einmal in der Tierwelt. Er tauchte immer allein auf, war es aber nie, ebenso wenig wie sein Observierungsobjekt. Es gab einen untergeordneten Bodega 2 und einen weiteren Bodega 3, falls Bodega 1 krank wurde oder zu auswärtigen Erkundungen abgezogen wurde. Es gab kein Entrinnen.
Er nickte ihm zu: »Gern geschehen. Wir sehen uns morgen«, schloss langsam die Terrassentür hinter sich und machte sich ans Packen.
»Es ist noch ein kleiner Rest in der Flasche. Kommen Sie, Herr Bodega, Sie werden doch wohl einmal ein drittes Glas Wein mit mir trinken, wenn Sie mir schon in jedem See hinterher schwimmen.« Sie kippte die Flasche tief in das Glas des jungen Herrn neben ihr.
»Ich bin leider dazu angehalten, Chefin«, sagte er. »An Land haben wir den Abstand ja schon auf zweihundert Meter erweitert, wenn ich Sie daran erinnern darf. Das ist das Äußerste.«
»Ich weiß. Und dennoch, Ihre Bindungsenergie ist beachtlich. Wenn ich ein Atomkern wäre, würde ich mir wünschen, Sie wären mein Außenelektron, das irgendwo in einer Umgebung herumschwirrt, die zehntausend Mal größer ist als ich. Da könnten Sie mich schon ein wenig aus den Augen verlieren, nicht wahr?«
»Ja, aber ich bin ja kein Elektron, jedenfalls nicht ausschließlich. Das macht die Sache einfacher.«
»Ich bewundere Ihre Logik, Herr Bodega.« Sie spitzte die Lippen und nippte an ihrem Wein. Sie konnte auf eine |10| sozial äußerst angenehme Weise mittrinken, ohne das Glas nennenswert zu leeren. Er hätte das wissen müssen.
In den Steppen Westsibiriens wäre das mit den zweihundert Metern auch überaus schwierig geworden, vor allem wenn man als Elektron gar nicht wusste, wo man überhaupt nach seinem Atomkern suchen sollte. Sie hatte ihm gegenüber auch nie etwas erwähnt von dieser Sache, mit der sie schon seit Kindheitstagen liebäugelte, von der Reise durch spektakuläre Landschaften, mit einem Himmel von tyrannischer Weite, den sie sonst nur mit einem Glas Wasser vor sich durchflog, Landschaften,
Weitere Kostenlose Bücher