Die Eisläuferin
Sonderangebotsschild hinter dem Bio-Plakat nur noch an einem dünnen Faden hing. Es neigte sich bereits verdächtig zur Seite, mit der Spitze genau über seinem Kopf.
Jetzt konnte sie nichts mehr aufhalten. Hier ging es um Menschenleben, und er war ja auch ein Mensch. Sie vergaß ihren Hippocampus, Krisenstab und Presseberatung, ihre Frisur, jegliches Mittelmaß und alle Hemmungen. Wieder einmal musste sie etwas tun, um Schlimmeres zu verhindern. Sie lief auf die Käsetheke zu, spang ins Bild und konnte ihn in letzter Minute zur Seite schubsen, bevor sich das Schild endgültig löste.
Es war wie ein Déjà vu: In diesem einen Augenblick, noch während sie sich in der Luft befand, tauchten mit einem Schlag die Erinnerungen an die letzten zwanzig Jahre wieder auf, spulten sich ab wie ein Film. Es war phänomenal. Ihr Herz tat einen Hüpfer wie früher, wenn die ersten Kraniche übers Dorf hinwegflogen. Sibirien, der Ural, der Bahnhofskiosk, der spanische Ministerpräsident – es war alles wieder da. Sie versuchte, die Bilder festzuhalten, einzufrieren, abzuspeichern, bevor das Schild mit einem dumpfen Laut auf dem Kunstrasen aufkam und der Parteichef mit ihr daneben niederging. Er fiel wie ein Butterbrot auf seine gute Seite.
Sie war rein äußerlich unversehrt, und auch er kam schnell wieder zu sich, obwohl er mit dem Kopf auf dem Kachelboden |247| und nicht auf dem Kunstrasen aufgekommen war. Er blickte etwas verwirrt um sich, stand dann aber ganz allein auf, schob das ihm zur Hilfe eilende Team mit den Armen zur Seite: »Lassen Sie mich in Ruhe! Wo bin ich hier? Wer sind Sie alle?«
Auch sie betrachtete erst einmal ihre Umgebung, sah das Schild neben sich, Parmigiano Reggiano, einhundert Gramm für einsneunundneunzig. Das war nicht teuer, dachte sie, setzte ihre Sonnenbrille auf – man musste ja nicht immer gleich erkannt werden – und nahm ihr Handy aus der Tasche.
»Herr Bodega, Einkäufe beendet. Ich komme. Das Leben ist köstlich. Wir sollten aufbrechen.
Gruß, die Ihrige«
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»Wenn wir Schatten Euch missfielen,
denkt zum Trost von diesen Spielen,
dass Ihr nur geschaut in Nachtgesichten
Eures eignen Hirnes Dichten.
Dies Gebild aus Schaum und Flaum,
wiegt nicht schwerer als ein Traum …«
Puck
Informationen zum Buch
»Liebes, da ist etwas, das du wissen musst: Du bist Regierungschefin.«
Der Hippocampus ist schuld. Der ist zuständig für das Gedächtnis, das ausgerechnet einer Regierungschefin während ihrer Urlaubsreise mit der Transsibirischen Eisenbahn abhandenkommt. Ein alter, rostiger Nagel an einem lockeren Bahnhofsschild gibt den Anstoß, das Schild fällt der Unglücklichen aufs Haupt und stiehlt ihr zwanzig Jahre ihres Lebens und jeden Tag aufs Neue ihre Erinnerungen. Mangels alternativer Kandidaten für das Amt erfährt die Öffentlichkeit nichts davon. Tag für Tag wird die Chefin von ihrem engsten Stab neu »auf Schiene« gesetzt – allerdings mit einigen Nebenwirkungen: Sie regiert plötzlich, als gäbe es kein Morgen, spontan, unvoreingenommen, ja geradezu leidenschaftlich. Auf der Suche nach ihrem Gedächtnis kennt sie kein Pardon, was sich jedoch nicht ganz unproblematisch gestaltet ...
Informationen zur Autorin
Katharina Münk,
1963 geboren, hat ihren Chefsekretärinnenberuf an den Nagel gehängt und ist heute neben ihrer Autorentätigkeit Personal Coach für Fach- und Führungskräfte. Ihr Sachbuch ›Und morgen bringe ich ihn um. Als Chefsekretärin im Top-Management‹ (2006) und ihr erster Roman ›Die Insassen‹ (2009) wurden Bestseller. Katharina Münk lebt mit ihrem Mann in Hamburg. Ihr Name ist ein Pseudonym.
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