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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
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herumwirbelten und deren Echo in seinen Ohren hing, als der Pfeil losschnellte: die geflüsterten Worte einer Bestie: Vielen Dank!
    Grove wusste, dass er niemals die Gelegenheit bekäme, die Bedeutung dieser Worte mit einem anderen menschlichen Wesen zu teilen. Dabei erklärten sie alles, sie lüfteten das Geheimnis der Mumien. Vielen Dank! Das Ding in Ackerman hatte nach einem Ausweg gesucht. Eine Pipeline aus dieser Welt hinaus. Einen Ausgang, damit der Horror enden konnte. Und nun war es an der Zeit für Grove, diesen Ausgang zu bieten.
    Es gab ein Wusch in der unerhört dünnen Luft –
    – genau in dem Moment, als Grove mit trockenen, aufgeplatzten Lippen eine hastig improvisierte Litanei anhob und seinen Arm dem sich öffnenden Himmel entgegenstreckte: «Iye, iye, iye yangu – IYE, IYE, IYE, YANGU!»
    Ich werde dich tragen!!, erbot er stumm in der Nanosekunde, bevor der Pfeil ihn traf, der in sein Herz und seine Seele eine Öffnung schlug. Sie lud den Teufel zu ihm ein, erflehte den Übertritt von Ackerman zu Grove.
    Der Pfeil streifte Groves Nacken in dem Augenblick, als das Wunder sich ereignete. Es fühlte sich an, als hätte ihn etwas gebissen – der Pfeil verpasste sein Rückenmark um einige Zentimeter und durchbohrte eine Sehne.
     
     
    Das Wesen, das in Grove fuhr, war ein widerwärtiger, durch und durch böser Todesengel. Grove wand sich in Zuckungen. Er hatte das Gefühl, es würde sich in ihm ein zweites Skelett entfalten, mit Knochen aus Obsidian und Mark aus der Hölle. In Groves Hirn herrschte ein Tohuwabohu aus Monologfetzen, sumerischem Kauderwelsch, schrecklichen Phantasiebildern, die plötzlich aufflackerten – Jahrhunderte des Mordens, der nie enden wollenden Grausamkeiten, Flüsse aus menschlichem Blut, die das Land überschwemmten und in tiefroten Flutwellen gegen die dürftigen Befestigungen von Menschenhand anrollten. Und dann spielte Grove seine Trumpfkarte aus.
    Er ließ los.
    Er stürzte fast hundert Meter tief, wild mit Armen und Beinen fuchtelnd, zuckend und sich verkrampfend im freien Fall wie ein Insekt im Todeskampf. Der Schrei, den er ausstieß, war nicht von dieser Welt und veränderte sich durch den Dopplereffekt in der Tonhöhe, je tiefer Grove stürzte – in dämonisches Brüllen, das zum wütenden Baritonklang einer zügellosen Höllenarie wurde.
    Grove landete mit einem dumpfen Laut in einer Schneewehe, und das leise Geräusch hallte von den hohen Türmen aus Fels und Eis leise wider.
    Danach herrschte nichts als Stille.
    Oben auf der Ostwand des Mount Cairn lag der tote Ackerman. Endlich war sein krankes Hirn erlöst.
    Tief unten war Grove begraben in drei Meter tiefem Schnee. Die gerade aufgegangene Sonne schickte ihre schrägen Strahlen über den Ort des Aufpralls. Der Krater hatte die Form einer Fledermaus. Oder die eines Engels, je nach Sichtweise.
    Klinisch unter all dem Schnee bereits tot, aber doch noch nicht bereit, den letzten Funken Leben erlöschen zu lassen, spürte Special Agent Ulysses Grove tief in sich vergraben eine tiefe Befriedigung…
    … die Befriedigung darüber, dass sein psychologisches Profil endlich vollständig war.

Epilog
Die Hütte
     
     
     
    «Alles ist im Wandel;
    alles gibt irgendwann seinen Platz auf und geht.»
     
    EURIPIDES
     
     
     
    Stimmen. In der Dunkelheit. Gedämpft vom Schnee. Knirschende Geräusche von Maschinen. Schaufeln. Hubschrauberrotoren, die den Gletscher vibrieren lassen. Die näher kommen. Näher.
    Dann eine männliche Stimme, klar und deutlich, aber auch aufgeregt und eindringlich: «Hab ihn gefunden! Hier drüben! Sofort einen Rettungshubschrauber hier runter! AUF DER STELLE!»
    Der Schoß aus Schnee erbebte. Er konnte sich nicht bewegen. Wie die Mumien von Anubis musste er in stiller Ruhe warten, bis der Lauf der sterblichen Dinge seine Entdeckung erlaubte. Er spürte eine leise Regung in der Brust. Wie lange hatte er unter dieser Schneedecke gelegen? Sekunden? Minuten? Stunden? Jahrtausende?
    Die Dunkelheit brach auf. Tageslicht strömte herein. Hände in dicken Handschuhen schoben Schichten Pulverschnee zur Seite.
    Obwohl er noch kaum etwas erkennen konnte, sah er jetzt die Retter: ein halbes Dutzend Männer in offiziellen AFP-Parkas, die ihn aus seinem kalten weißen Grab schaufelten. Ein Sanitäter mit einem Notfallkoffer – tragbarer Defibrillator, Sauerstoff, Streckschienen, aufblasbare Schockhose – grub sich durch den Schnee an ihn heran.
    Eine Hand griff hinunter und packte ihn am Revers seiner

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