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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
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dass wir diese Sache endlich in den Griff bekommen. Und zwar mit Ihrer Hilfe, mein Junge!»
    «Verstehe», gab Grove zurück.
    «Wir müssen die Spur verfolgen, solange sie noch frisch ist.»
    «Ja, ja, schon klar, Tom.»
    «Was ich damit sagen will: Eigentlich hätten wir schon vor zehn Minuten jemanden dort draußen haben müssen!»
    «Ich mache das», sagte Grove und sprang aus dem Bett. Der Boden fühlte sich kalt unter seinen Füßen an. «Ich nehme den nächsten Flug und bin dort, bevor die Uniformträger ihre Donuts gefuttert haben.»
    Schweigen am anderen Ende der Leitung.
    Grove atmete tief durch. Er wusste, was diese Stille zu bedeuten hatte. Geisel machte sich Sorgen. Die Ermittlungen in der Sun-City-Mordserie stockten. Seit zwölf Monaten veröffentlichten die Zeitungen grässliche Tatortfotos, die das ganze Land in Angst und Schrecken versetzten. Ganz zu schweigen von den erzürnten Bürgerinitiativen, den empörten Reportern und selbstgerechten Politikern, die auf das FBI einschlugen, weil sie angeblich nur stümperhafte Arbeit leisteten. Geisel machte sich auch ernsthafte Sorgen um Grove, der anfing, unter dem enormen Erwartungsdruck Schwächen zu zeigen.
    Der Druck war in der Tat immens. Grove war der Fall vor neun Monaten zugewiesen worden, gleich nach dem zweiten Mord. Seitdem hatte er mehr oder weniger nichts zur Klärung beitragen können. Dabei mangelte es nicht an Spuren. Der Täter war offenbar ein organisierter Mensch, der genau wusste, was er tat, und mit eiskalter Berechnung vorging. Es war seine Willkür, die alle vor ein Rätsel stellte. Grove hatte niemals zuvor einen so ausgefeilten Modus operandi und eine so eigenwillige Täterhandschrift gesehen. Die Art und Weise, in der die Opfer gejagt, niedergestreckt und nach dem Tod zur Schau gestellt wurden – dies alles widersprach im Kern der zufälligen Auswahl der Opfer.
    Nach dem sechsten Mord fühlte sich Grove, als wate er durch tiefen, schweren Treibsand. Normalerweise arbeitete ein Profiler an mehreren Fällen zur gleichen Zeit, doch der Sun-City-Fall bekam für Grove oberste Priorität. Die ungelösten Mordfälle brannten in ihm wie glühendes Eisen, sie okkupierten seine Gedanken und geisterten durch seine Träume. Er war es nicht gewohnt zu versagen. In der Geschichte des FBI konnte er die höchste Erfolgsquote aller Profiler aufweisen. Er wusste das und seine Kollegen ebenso, und sie wussten, dass er es wusste. Bescheidenheit gehörte nicht zu Groves Tugenden. Doch der Sun-City-Fall drohte nun, ihn von seinem hohen Podest zu stoßen.
    «Vielleicht sollte ich besser Zorn schicken», sagte Geisel schließlich.
    «Bitte nicht, Tom», intervenierte Grove.
    «Ulysses – »
    «Zorn ist ein guter Mann, so habe ich das nicht gemeint.» Grove ging auf den kühlen Bodenfliesen auf und ab, seine Kopfhaut prickelte vor nervöser Anspannung. Durch die Schlitze der Jalousien fiel bereits das fahle Licht der Morgendämmerung in den Raum. Die minimalistische Ausstattung entsprach Groves genügsamer Natur: In einer Ecke stand ein einzelner Stuhl aus Edelstahl, daneben eine skandinavische Designerlampe, die aussah wie eine überdimensionierte, umgedrehte Spritze. Nachdem seine Frau Hannah vor vier Jahren an Krebs gestorben war, hatte Ulysses alles aus seiner Umgebung entfernt, was an sie erinnerte. Es war, als wäre mit ihr auch jegliche Wärme aus seinem Leben gewichen. Nur die kalten und klaren Strukturen waren geblieben.
    «Ich war bei diesem Fall von Beginn an dabei. Ich kenne jedes Detail», versuchte Ulysses seinen Boss umzustimmen. «Ich muss das zu Ende bringen. Ziehen Sie mich nicht ab, Tom. Bitte.»
    Eine lange Pause am anderen Ende der Leitung. Grove umklammerte das Handy. Mit einem resignierenden Seufzen sagte Geisel schließlich: «Sie werden das Flugticket und weitere Anweisungen von Shirley bekommen. Und Ulysses: Bringen Sie dieses Monster endlich zur Strecke!»
     
     
    Thomas Geisel legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Drehstuhl aus poliertem Mahagoni zurück. Er strich sich mit den Fingern durch das stahlgraue Haar und seufzte laut. Hatte er gerade einen folgenschweren Fehler begangen? Vielleicht sollte er den ausgebrannten Profiler nicht länger an vorderster Front kämpfen lassen. Ulysses Grove stand zweifellos kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
    Geisel hatte es an seiner Stimme gemerkt. Doch wer würde nicht unter der Arbeitslast zusammenbrechen, die man Grove aufbürdete? Er musste nicht nur die Sun-City-Morde

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