Die Erben der Schöpfung
Schimpanse seinen Schrein – denn was hätte es sonst sein sollen? – fertig hatte, kreischte er nach seiner Mutter. Sowie er sie erblickt hatte, lief er hinüber, packte ihren kräftigen Arm und führte sie zu seinem Werk, indem er mit der freien Hand winkte und zu der Plattform zeigte. Die Mutter sah die Blüten, begriff offenbar, dass die Beute ihres Jungen nicht essbar war, und zeigte wenig Interesse. Trotzdem bewunderte der Kleine weiter seine Konstruktion.
Jamie richtete sich auf, um besser hinter dem Baum am Rand der Lichtung hervorspähen zu können. Der junge Schimpanse zuckte zusammen und sah sie direkt an.
Jamie und der Affe fixierten sich. Sie wollte eigentlich davonlaufen, doch sie konnte nicht. Sie konnte nicht einmal atmen, sondern nur den erstaunlichen Schimpansen anstarren.
Er hielt ihrem Blick eine Weile stand und wirkte dabei weder erschrocken noch beeindruckt. Dann hob er einen Arm, krümmte die Finger und winkte die verblüffte Jamie einfach zu sich her.
Ihre Angst war geringer als ihr Erstaunen, und so trat sie zögerlich auf die Lichtung hinaus.
Der Schimpanse machte keinerlei Anstalten, sich ihr zu nähern, sondern griff nach unten und hob einen abgebrochenen Stock auf. Er trat einen Schritt zur Seite, wischte mit dem Unterarm ein Stück Erde frei und begann, mit dem Stock etwas in das hell beleuchtete Erdreich einzuritzen. Schließlich trat er ein wenig zurück und winkte Jamie noch einmal zu sich her. Sie gehorchte und trat näher heran, bis sie das Stück Erdreich sehen konnte.
In großen Blockbuchstaben, die zu ihr gerichtet waren und für den Schimpansen auf dem Kopf standen, stand dort geschrieben:
WER BIN ICH
2
Chicago, Illinois
Nathan Hall fuhr in flottem Tempo mit seinem grauen Lexus-Cabrio die Auffahrt Fullerton zum Lake Shore Drive hinauf. Morgens um halb sechs herrschte hier noch kaum Verkehr. Nathan hängte einen Arm aus dem Fenster und ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen, während er beschleunigte und auf die Insel aus Wolkenkratzern in Chicagos Innenstadt zuraste.
Für ihn war der Lake Shore Drive die einzige erträgliche Straße der ganzen Stadt. Sie war einer der Gründe dafür gewesen, warum er sich eine Eigentumswohnung in Lincoln Park gekauft hatte, fünf Minuten vom Lake Shore Drive entfernt und zu jeder Tages- und Nachtzeit nur fünfzehn Minuten von seinem Büro Ecke Jackson und LaSalle. Das Wunderbare am Lake Shore Drive war, dass diese Stadtautobahn von Chicagos Innenstadt, dem so genannten »Loop«, in nördliche Richtung verlief und sich mit ihren Ausläufern fünfzehn Meilen weit in die Wohngebiete erstreckte, jedoch trotzdem von den Pendlermassen verschont blieb, die die anderen städtischen Freeways verstopften.
Es gab noch mehr, was dafür sprach, sich in Lincoln Park niederzulassen. Nathan kannte keinen anderen Ort auf der Welt, wo ein ehrgeiziger junger Mann sich von anderen Menschen umgeben fand, die genauso waren wie er. Die einzige Zugangsvoraussetzung bestand darin, jung und aufstiegsorientiert zu sein und jedes Jahr ein paar Abende im Ravinia Park bei Open-Air-Konzerten Käsehäppchen zu futtern, jedoch an allen anderen Abenden im Jahr zu arbeiten. Diesen Test bestand Nathan mit Leichtigkeit.
Nathan war vor acht Jahren nach Chicago gezogen und hatte bei Goldman Sachs als Praktikant im Investment-Banking angefangen. Da er gerade erst sein Wirtschaftsstudium in Berkeley abgeschlossen hatte, freute er sich über das Angebot, vor allem, als sich die Firma bereit erklärte, ihm ein Aufbaustudium an der Kellogg School of Business zu finanzieren.
Jede einzelne der neunzig Stunden Arbeit pro Woche gefiel ihm so gut, dass er an Bord blieb, als er seinen Master of Management an der Kellogg School gemacht hatte und Leiter der Abteilung für Biotechnologie in der Chicagoer Niederlassung von Goldman Sachs wurde. Im Grunde war es eine Laune des Schicksals, die ihn zur Biotechnologie geführt hatte. Die Abteilung war lediglich zum richtigen Zeitpunkt unterbesetzt gewesen, und Nathan hielt das Gebiet für unberechenbar genug, um einem Investment-Banker Herausforderungen und Gelegenheiten zugleich zu bieten.
Zwei Jahre später geriet er wegen seiner hohen Risikobereitschaft zunehmend in Konflikt mit der Firmenleitung, und vor zwei Jahren verließ er das Haus endgültig, um sich als unabhängiger Biotech-Fondsmanager zu etablieren. Er begann mit einem bescheidenen Investmentfonds mit Werten aus Biotechnologie und Pharmazie und gewann rasch
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