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Die erste Todsuende

Die erste Todsuende

Titel: Die erste Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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Milieu zu tun gehabt hatte. Zufall und Umstände hatten sich verschworen, ihn zu entwürdigen, genau wie sie Daniel Blank pervertiert hatten.
    Er wußte nicht alles und würde nie alles wissen - auch das sah er jetzt. Da waren Entwicklungen, Strömungen, Gezeiten und Zufälle von solcher Vielschichtigkeit am Werk, daß nur ein gedankenloser Narr sagen konnte: „Ich bin der Herr meines Schicksals." Opfer, dachte Delaney. Wir alle sind Opfer auf die eine oder andere Weise.

    Doch empfand er diesen Gedanken weder als bedrückend, noch sah er darin eine Entschuldigung für unrechtes Verhalten. Bei unserer Geburt bekommen wir alle unsere Karten zugeteilt, und wir spielen sie so geschickt aus, wie wir können, ohne lange darüber zu lamentieren, daß wir nur zwei bekommen haben. Der Beste spielt auch mit schlechten Karten noch erfolgreich - er blufft vielleicht, wenn er muß -, aber am Ende setzt er doch alles auf eine Karte.
    Captain Delaney fand jetzt, daß er ein schlechter Spieler gewesen war. Seine Ehe war bisher glücklich gewesen, seine Karriere erfolgreich. Aber er kannte seine Niederlagen... er kannte sie. Irgendwo war ihm unterwegs die Menschlichkeit abhanden gekommen, war das Mitgefühl in ihm erloschen. Ob es zu spät war, um ein anderer zu werden? Er wußte es nicht. Er konnte es versuchen - aber dann mußte er mit Umständen und Zufällen fertig werden und, was ebenso schwer war, mit den Gewohnheiten und Vorurteilen so vielerJahre, daß er sie gar nicht nachrechnen mochte.
    Unsicher und in seinen Überzeugungen erschüttert, starrte er zum Teufelszahn hinauf. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er hatte Angst, und er war verwirrt, denn er spürte, daß er eine Gewißheit verloren hatte, daß er sich von einem Glauben entfernte, der ihn - ob zu Recht oder zu Unrecht -gestützt hatte.
    Er spürte etwas auf seinem nach oben gewandten Gesicht, ein leichtes, kaltes Prickeln, etwas Feuchtes. Tränen? Nur die ersten zarten Schneeflocken. Er sah sie im Scheinwerferlicht: ein hauchfeines Spitzengewebe. Und in diesem Augenblick wußte er, daß Daniel Blanks Seele dem Körper entflohen war, sich in die Dunkelheit emporgeschwungen und Captain Delaneys Stolz mitgenommen hatte.
    Kurz vor Tagesanbruch verwandelte sich der noch immer fallende Schnee in Eisregen. Doch dann klärte sich der Himmel auf. Als Captain Delaney um halb neun vor die Blockhütte trat, war der Boden mit einer glitzernden Decke überzogen. Und jeder schwarze Zweig war von einer durchsichtigen, in der Sonne blitzenden Eishülle umgeben.
    Er ging in seinem Mantel zu dem Verpflegungswagen hinüber und holte sich schwarzen Kaffee und einen Schmalzkringel. Die Luft war klar, frostig, fast schneidend - es war, als atme man Äther ein. Alles draußen wirkte wie ziseliert, und doch war die Welt nicht klar: Ein dünner weißer Schleier hing zwischen Sonne und Erde, und das Licht war gedämpft.
    Als er wieder in die Blockhütte trat, sagte er zu dem Funker, er solle ein zusätzliches Mikrofon anschließen - eines, das man in der Hand halten konnte, mit einem langen Kabel, damit er draußen auf der Veranda stehen und die Spitze des Teufelszahns hinter den kahlen Bäumen beobachten und gleichzeitig mit Chilton zwei oder Chilton drei in Verbindung treten konnte.
    Der Krankenwagen kam. Chief Forrest kletterte heraus, und man sah seinen dampfenden Atem. Er dirigierte den Wagen an den vorgesehenen Platz. Die Tragbahre und eine Leichenhülle wurden herausgeholt. Dann setzten sich die beiden Sanitäter wieder in die warme Fahrerkabine und rauchten. Captain Sneed zeigte einem Trupp von zehn Männern, wo sie sich aufzustellen hatten, wenn es soweit war. Er tat seine Pflichten mit einem feierlichen Ernst, als habe er persönlich die Verteidigung von Fort Alamo zu leiten. Aber Delaney mischte sich nicht ein — sollte er seinen Spaß haben. Schließlich kamen Forrest und Sneed zu Captain Delaney auf die Veranda. Sneed sah auf seine Uhr. „Jetzt starten sie", sagte er mit gewichtiger Stimme.
    Chief Forrest war der erste, der den Hubschrauber hörte. „Sie kommen", sagte er, hob seinen alten Feldstecher an die Augen und suchte den nördlichen Himmel ab. Dann vernahm auch Captain Delaney das Knattern, und als er kurz darauf in die Richtung blickte, in die Forrest deutete, sah er den Hubschrauber langsam tiefer gehen und, leicht seitlich geneigt, einen Kreis um den Teufelszahn ziehen.
    Im Lautsprecher knisterte es.
    „Chilton zwei an Chilton eins.

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