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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Wege ums Leben herum zu deinem Gott.«
    Frau Sophie machte eine Bewegung, so daß der Löffel scharf auf die Untertasse fiel.
    Dann sagte sie kalt: »Ich habe dich in Frömmigkeit erzogen.«
    Gerhard lächelte ein wenig: »Was ist Frömmigkeit? Freude an dunkeln Kirchen und lichten Christbäumen, Dankbarkeit für den stillen, von keinem Sturme gestörten Alltag, Liebe, die den Weg verloren hat und sucht und tastet im Uferlosen. Und eine Sehnsucht, welche die Hände faltet, statt die Flügel auszuspannen.«
    Der Kranke lehnte den Kopf weit zurück in das dunkle Kissen, so daß man das Kinn sah mit den spärlichen blassen Barthaaren und den mageren Hals mit den straffen Sehnen. Frau Sophie nestelte mit ihren feinen Fingern hastig an ihrem schwarzen Spitzenkragen, und in ihrer Stimme war lauter Zärtlichkeit:
    »Machst du mir Vorwürfe, Gerhard?«
    Der junge Mann regte sich nicht, nur seine Hände wiegten sich leise. »Nein, Mutter.«
    »Du sprichst so …« fragte die alte Dame ängstlich.
    Gerhard senkte langsam den Kopf, und sie schauten sich in die Augen.
    »Danken müßt ich dir eigentlich dafür. Du hast mich tief in lauter Wunder geführt, immer weiter und immer weiter. So weit hast du mich in deinen Glauben geführt, daß ich die ganzen zehn Jahre, da ich von dir fern war, gebraucht habe, um herauszufinden.«
    Frau Sophie lehnte sich vor in ihrem Sitze, wie um kein Wort zu verlieren.
    Der Kranke sprach fort in unsäglich mildem Ton. Ein jedes Wort schien für sich um Verzeihung zu bitten: »Mutter, du mußt es wissen, diese zehn Jahre waren ein trostloser Rückweg für mich. Ich bin so müde dabei geworden. Aber ich müßte dir dennoch danken dafür, wenn ich nicht so krank wäre. Ich stehe jetzt ganz am Anfang und muß sterben. Ich bin, als ob ich nie gelebt hätte, denn ich habe nie ins Leben gefunden. Fünfzehn Jahre irregeführt sein und zehn Jahre sich zurückkämpfen zum Anfange: Das bin ich.«
    »Gerhard!« flehte Frau Sophie, und ihre Hände zitterten und falteten sich vor lauter Hilflosigkeit, »du versündigst dich.« Der Sohn aber sagte aus tiefen Gedanken: »Am Anfang sein und sterben müssen, das ist doch traurig.« Seine Augen waren so voll Wehmut, daß die Dame die Hände vor das Gesicht preßte und heftig aufschluchzte.
    Gerhard schwieg, und seine Blicke ruhten von ungefähr auf dem Bilde seines Vaters, das nahe am Fenster hing und dessen Züge im Dämmerlicht noch kenntlich waren. Er konnte sich seines Vaters kaum entsinnen, denn er war noch ein ganz kleiner Knabe, damals als der Vater, um einer fremden Frau willen, die Heimat verließ. Der Kranke dachte nach und sagte dann: »Ich glaube jetzt bin ich dir noch viel weiter und fremder als er.«
    Frau Sophie drückte das dünne Batisttuch an die Augen, und ein ganz leiser Duft von feinem Lavendel wehte durch das Zimmer. Sie fragte mit trockener Stimme: »Wer?«
    »Der Vater!« antwortete Gerhard brutal.
    Die alte Frau blickte ihn erschrocken mit zuckenden Augen an, und ihre Lippen bebten krampfhaft und suchten zu widersprechen. Allein sie fand kein Wort. Sie fühlte plötzlich, daß sie etwas verteidigen mußte, was von ihrem Kinde bedroht war, etwas, was tief in ihr lebte, sie stärkte und segnete und was ältere Rechte besaß als ihr Kind. In diesem Augenblicke wäre sie am liebsten geflohen. Scheu blickte sie auf. Sie sah jetzt die matten, geschlossenen Augen des Kranken und seinen Mund, der müde war von den vielen Worten. Seine arme, rührende Hilflosigkeit fesselte sie. Unwillkürlich stellte sie die beiden im Geiste nebeneinander: den Gott in ihr, den Gerhard bedroht hatte, und ihren schwachen, unglücklichen Sohn. So blieb sie.
    Die nächsten Wochen waren ein leiser, heimlicher Kampf, den Frau Sophie dadurch zu mildern suchte, daß sie ihren Gott immer tiefer in sich versenkte und vermied, daß er jemals ihrem Sohne begegne. Dadurch erhielt ihr ganzes Wesen eine ängstliche Hast, eine gewisse scheue Heimlichkeit, welche jeder ihrer Bewegungen die Sicherheit raubte. Sie versperrte ihre Türe, wenn sie ihr Nachtgebet sagte, und wenn das Aveläuten begann, so ging sie in irgend ein dunkles Zimmer und machte dort zitternd das gewohnte Kreuz. Vor dem Mittagmahl beschränkte sie das von Kindheit an geübte Flehen auf einen ganz flüchtigen Gedanken an Gott, und sie bangte jedesmal, Gerhard könnte ihn in ihren Augen finden. Die stete Furcht legte sich wie etwas Fremdes über sie, und den lauernden Blicken des Kranken war die seltsame

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