Mythor - 130 - Das Auge des Kriegers
1.
Bei strahlendem Winterhimmel und schwachem Rückenwind glitten fünf Drachenboote der Sasgen nordwärts durch das Eislandmeer. Sie waren die letzten einer großen Flotte, die bei Eisschmelze in den Süden aufgebrochen war, um eine Festung der Caer zu erobern und zu plündern. Von den tausend Kriegern war kaum noch eine Hundertschaft übrig – vierundsiebzig, um genau zu sein.
Die Boote waren für vierundzwanzig Ruderer gebaut, zwölf auf jeder Seite. Zur Mannschaft gehörten ein Steuermann und ein Bootführer. In der Regel waren die Schiffe mit einem weiteren Dutzend Kriegern bemannt, so daß die Rudermannschaften sich ablösen konnten.
Die fünf Boote waren stark unterbesetzt, so sehr in der Tat, daß die rotbärtigen Sasgen alle Kraft brauchten, um sie in Fahrt zu halten.
Auch die Lorvaner und ihre Gefährten, zusammen ein rundes Dutzend, verbesserten die Lage nicht. Sie waren ein Reitervolk, des Ruderns und der Seefahrt unkundig, und ein Lorvaner am Ruder vermochte den Rhythmus der ganzen Mannschaft durcheinanderzubringen.
Wäre nicht Yarolfs Wetterzauber gewesen, der sie geleitete, hätten sie längst wenigstens eines der Boote aufgeben müssen, denn die Gewässer im Gebiet des Nordkaps von Yortomen waren ihrer Stürme wegen gefürchtet. Wie weit der Zauber reichen würde, wußten sie nicht, aber wenn sie erst im Riffstrom angelangt waren, einer Meeresströmung, die entlang der Riffinseln bis an den Nordzipfel von Eislanden floß, gab es für sie nur noch eine Gefahr: an einem der zahlreichen Riffe zu zerschellen.
Es gab keinen Sasgen, der fröhlichen Gemüts ihr Ziel vor Augen hatte. Nicht nur tödliche Gefahren, auch unheimliche. Legenden umgaben die Riffinseln, vor allem die größte, die die Lorvaner Gorgans Auge nannten.
Als die Insel des Wettermachers im Süden am Horizont verschwand, endete auch der Zauber. Die Sonne verfinsterte sich von einem Ruderschlag zum anderen. Der Himmel war tief wolkenverhangen. Ein eisiger Wind kam den Schiffen entgegen und peitschte das Meer auf, das noch einen Augenblick zuvor ruhig und glatt gewesen war.
Der Sasgenführer grinste breit, als er sah, wie die Gesichter der Lorvaner weiß und dann grünlich wurden und gleich darauf über der Bordwand hingen. Aber viel Zeit für Schadenfreude blieb nicht, denn der Wellengang brachte Wasser ins Boot, und alle, die an den Rudern entbehrlich waren, hatten alle Hände voll zu tun, mit Helmen und Schilden zu schöpfen.
Rujdens Grinsen wurde zu einem Lächeln der Anerkennung, als er Burra, die Kriegerin aus dem Süden, beobachtete. Ihr machte der Seegang wenig aus. Sie war in der Tat ein Weib, an dem selbst Grimh und Aiser Gefallen gefunden hätten. Er dachte mit Hochgefühlen an die vergangene Nacht mit ihr auf Yarolfs Eiland zurück. Er hatte eine Festung genommen und sich in ihr verloren, denn hinter dem Bollwerk ihres mächtigen Busens und ihres bissigen Mundwerks hatten Feuer gebrannt und gelodert, die ihn fast verschlungen hätten.
Seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt durch Nottr, der heroisch gegen seine Übelkeit ankämpfte.
»Wie willst du wissen, ob wir auf Kurs sind?« keuchte er.
Rujden zuckte die Schultern. »Es gibt nur zwei Richtungen im Eislandmeer… entweder auf das Land zu, oder auf die Strömung. So oder so werden wir es früher oder später wissen, Landratte!«
»Vielleicht haben wir die Strömung schon hinter uns?«
»Nein. Aber bei diesen Wellen werden wir bald das Donnern der Riffe hören. Und dann mögen Grimh und Aiser mit uns sein!«
»Und Imrirr!« murmelte Nottr.
Und dann hörten sie ein fernes Donnern, das unablässig erklang.
»Das ist das erste Riff«, erklärte Rujden. »Wir sind in der Strömung! Jetzt werden wir sehen, wie gut es die Götter mit uns meinen!«
»Warst du schon einmal in dieser Strömung?«
»Wir durchqueren sie immer, wenn die Fahrt nach Westen geht. Aber nicht hier in den Riffen. Ich wünschte, ich hätte mehr Männer an den Rudern!«
»Wann kommen wir in die Strömung?«
»Wir sind bereits mitten drin.«
Dunkle Felsen tauchten in der Ferne auf, schwarz und gischtumsprüht. Es war bald offensichtlich, daß sie darauf zutrieben. Die Ruderer kämpften verzweifelt darum, Abstand zu gewinnen, doch es gelang kaum ein gleichmäßiger Ruderschlag. Einige der Sasgen wurden von den Bänken geschleudert, manches Ruder brach. Die Lorvaner sprangen an die Ruder, wo immer Not am Mann war.
Die schroffen Felsen kamen unaufhaltsam näher, blieben aber mehr und mehr zur
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