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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Veränderung keineswegs entgangen. Fast unbewußt forschte er nach den Gründen desselben und ermattete in Vermutungen. Dabei wurde er reizbar und bitter, und er sprach oft von dem ›Rückweg‹, aber nicht mehr im Tone einer sanften, wehmütigen Entsagung wie jenes erste Mal. Dann fürchtete Frau Sophie für ihren Gott in gleichem Maße wie für den Kranken. Denn sie liebte beide und wußte, daß der Entscheidungskampf einen von ihnen töten müsse. In diesen bangen Wochen war aus dem machtreichen und großen Gott, der sie seit ihren Kindheitstagen geleitet und beschirmt hatte, ein ganz kleiner, furchtsamer Gott geworden, der ihr Eigentum war und den sie beschützen mußte und hüten, wie ein aus seinem Nest gestürztes Vögelchen. Sie erschrak, als sie dies bemerkte. Sie fühlte mit einemmale, wie ihr Gott in diesem tiefen Verborgensein immer ärmer und ratloser und kleiner wurde, und bebte vor dem Tag, da er ganz zusammensinken würde, ohne Widerstand und lautlos, wie eine Lampe verlischt, wenn es am Öl fehlt. Sie empfand zugleich, daß sie ohne diesen Gott sein werde wie ein totes Blatt und daß sie ihn, ehe es zu spät sei, herausholen müsse aus seinem Begrabensein in das helle Licht.
    Darum sagte sie einmal, als Gerhard ihr wieder gegenüber saß in der Dämmerung:
    »Ich glaube an Gott. Er wird dich gesund machen.«
    Ihre Stimme klang zaghaft, und sie wiederholte mutiger: »Ich glaube an Gott.«
    Da erhob sich der Kranke mühsam und ging auf sie zu. Er kam wie einer, der etwas nehmen will, und Frau Sophie zitterte unter seinem Blick. Sie zitterte vor seinen kranken Händen und sah, wie er seine kalten, harten Finger ihrem Gott an die Kehle legte, um ihn zu würgen. Und sie flehte vor ihrem Sohn für ihn:
    »Mitleid.«
    Gerhard blieb vor ihr stehen.
    Sie stöhnte in fortwährender Abwehr wie gegen einen Fluch: »Ich glaube an Gott.«
    Er stand vor ihr und hielt ihre zitternden Hände.
    Er nickte: »Ja«, und sagte dann, als ob er jemandem nachspräche: » … aber dein Gott kann mir nicht die Krankheit nehmen. Ich habe sie nicht von ihm; die hat mir mein Vater gegeben.«
    Entsetzt sah ihn die Mutter an.
    Er ertrug ihr Auge. Da wurde es immer ohnmächtiger und müder. Er ließ ihre feinen Hände fallen, schob einen Stuhl näher und setzte sich. So trafen sich ihre Blicke, und sie dachten: Wir sind so fern von einander.
    Sie waren einander sehr ähnlich, aber es war schon spät, und sie konnten ihre Züge nicht erkennen. So saßen sie, und der Kranke fühlte: Also ich werde ganz allein sein die kurze Weile. Unsere Lippen können sich nichts mehr schenken, denn lächeln wird sie nicht mehr, ihre Küsse gehören ihrem Gott, und ihre Worte sind aus einer fremden Sprache. Ich werde also ganz allein sein. Sie aber hat ihren Gott.
    Sie schwiegen.
    Dann sagte sie, und es war, als schickte sie ihre Worte über einen breiten, rauschenden Fluß von Ufer zu Ufer:
    »Seine Briefe waren so furchtbar. Er hungert. Ich hab deinem Vater Geld geschickt verzeih.«
    Er jubelte auf: »Ich habs auch getan.«
    Erfüllt von demselben, dankbaren Leuchten fanden sich ihre Augen.
    Alle Fernen schmolzen.
    Und ihre Hände schlossen sich innig zusammen wie die zweier Menschen, die einander helfen wollen.

König Bohusch
(1897)
    Als der große Mime Norinski um drei Uhr nachmittags in das National-Café, welches vor dem Prager tschechischen Theater liegt, eintrat, erschrak er ein wenig, lächelte aber gleich darauf sein verächtlichstes Lächeln: in dem Spiegel, schräg gegenüber der Tür, hatte sich irgend eine entfernte Ecke des Saales gefangen, und er hatte drinnen eine schiefe Marmorsäule und unter dieser Säule einen kleinen, buckligen Mann erkannt, dessen seltsame Augen dem Eintretenden wie lauernd aus einem unförmigen Kopfe entgegenstarrten. Das Fremde dieses Blickes, in dessen Tiefen irgend ein unerhörtes Geschehen sich dunkel zu spiegeln schien, hatte ihn einen Augenblick in Schrecken versetzt. Nicht etwan, weil er besonders furchtsamer Natur gewesen wäre, sondern infolge des profunden und versonnenen Wesens, welches so großen Künstlern meistens eignet und durch dessen Wall sich jedes Ereignis gleichsam durchbohren muß. Dem Original gegenüber empfand Norinski nichts Ähnliches. Er übersah den Verwachsenen sogar eine ganze Weile, während er mit unnötiger Wichtigkeit den andern am Stammtisch die Hand reichte. Die Händedrücke nahmen eine ziemliche Zeit in Anspruch, denn jeder hatte gleichsam drei Akte. Erster Akt:

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