Die Erziehung - Roman
der Reise und vom Tag konnte seiner Freude etwas anhaben. Angeregter als zuvor setzte er sein Herumwandern fort. Die Seine war nicht mehr weit weg, doch er beschloss, sie erst am nächsten Tag aufzusuchen. Es war dumm , dachte er, den ganzen Tag so sinnlos herumzustreichen . Noch nie zuvor hatte er sich ein Ziel gesetzt. Er hatte sich bis dahin einfach von der trübseligen Abfolge der Tage tragen lassen. Lediglich einen Nachgeschmack von Langeweile hatte er davon zurückbehalten. Und jetzt auf einmal forderte Paris von ihm ein tägliches Ziel. So hatte er sich die Seine als Bestimmung vorgenommen, die bescheidenste wohl, nur wenige Schritte entfernt. Denn morgen musste er dringend ein paar Sols verdienen, eine Unterkunft finden und essen. Dieser Gedanke verstimmte ihn. Er blieb mitten auf einer Straße stehen, ging in sich und musste feststellen, dass er vollkommen willenlos war. Also folgerte er, dass es ein vernünftiger Entschluss war, den Gang zur Seine auf den folgenden Tag zu verschieben – der einzige Entschluss, den er an diesem Tag gefasst hatte. Hatte er denn überhaupt schon jemals etwas angestrebt? Gaspard dachte nach, musste die Frage aber verneinen. Denn abgesehen von seinem Aufbruch nach Paris hatte Quimper jede Andeutung eines Wunsches in ihm erstickt. Er lief weiter, spürte das Drängen der Blase, entleerte sie an einer Wand. Weil er seit Tagen zu wenig getrunken hatte, brannte der verdickte Urin in seiner Harnröhre.
Paris, von der Nacht verschluckt, hallte von neuen Geräuschen wider, von Schreien, Seufzern, Peitschenhieben auf dunkle Pferdekruppen. Der Geruch nach Weizen und gekochtem Gemüse zog durch die Straßen. Ein paar Laternen erleuchteten die Häuserfronten. Man konnte Gesichter, feindselige Gestalten erahnen. Gaspard bog in ein Gässchen ein, vergewisserte sich, dass ihm niemand folgte. In einer Mauer fand er eine Nische, die groß genug war, einen Menschen aufzunehmen. Er zwängte sich hinein, zog die Beine unters Kinn. Ratten, die von seiner Anwesenheit aufgeschreckt wurden, huschten über die Mauern. Alles war von ihrem Gestank durchdrungen. Er selbst stank bereits nach ihrem Dreck. Flöhe, durch seinen Schweißgeruch erregt, zerstachen ihm die Haut. Gaspard war sich bewusst, dass er aufpassen musste, wenn er nicht von dem Geschmeiß aufgefressen werden wollte. Er griff nach einem Stück Holz und klopfte die dunklen Stellen ab. Bald fielen seine Augen zu. Aus seinem Traumbett mit den nebelhaften Ufern trat der Schlaf und überströmte ihn.
II
DIE SEINE FINDEN
UND SICH DARIN VERLIEREN
Auf Gaspards fröstelnder Haut perlte das Morgengrauen. Er rieb sich die schmerzenden Arme, streckte seinen Rücken. Seine Beine knackten. Ein zäher Schleim verklebte seinen Mund. Die Lippen waren von der Hitze rissig geworden. Er betrachtete den Boden, der mit Exkrementen bedeckt war, und bemerkte, dass die Ratten sich nicht genähert hatten. Das Stück Holz war weggerollt. Bestimmt roch er alles andere als appetitlich. Außer für die Flöhe , dachte er, während er sich die mit Blasen übersäte Haut von Beinen und Bauch kratzte. Die Insekten krochen auf seine Hodengegend zu. Er stand auf, schüttelte seine Kleider, klopfte sich den Rücken ab und richtete dann die Augen auf die Gasse. Vor den Elendsbehausungen, die wieder zum Leben erwachten, stapelten sich die Abfallhaufen. Aus allen Löchern krochen die Pariser heraus, aus den unmöglichsten Orten. Die mitgenommenen Körper streckten sich, stießen aneinander, entleerten sich in die Ecken.
Eine Tür flog auf, und eine Frau schüttete einen Eimer Seifenwasser aus. Gaspard sah zu, wie sich die Flüssigkeit über den Boden verteilte. Hunger überfiel ihn plötzlich. Dann beobachtete er, wie die Frau sich, das Sammelsurium einer Schneiderin vor sich herschiebend, aus ihrer Unterkunft herauskämpfte. Ihre struppigen Haare standen wie brennendes Stroh um ihren Kopf. Ihr Gesicht bestand aus lauter Pusteln, die Haut war angeschwollen. Mit einem kraftlosen Zischen ließ sie sich vor einem Stoffberg nieder und rief einen Namen, den Gaspard augenblicklich wieder vergaß. Ein Kind tauchte in der Tür auf. Das Gesicht noch zerknittert vom Schlaf schmiegte es sich an seine Mutter. Die Schneiderin küsste den verlausten Kopf, löste die Bänder ihres Kleides und hielt ihm eine Brust hin. Das Mädchen packte das schlaffe Fleisch und verschlang die Warze, während die Mutter einen Wasserträger grüßte, der in einem Hof verschwand. Sie rief ihm nach, er
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