Die Erziehung - Roman
ab, wischte sich mit dem Zipfel seines Hemdes den Hals. War der Schatten auch nicht kühl, so brachte er doch etwas Erholung vor der Sonne. Der Schweiß rann Gaspard über den Schädel, er fühlte, wie er sich seinen Weg von der Kopfhaut hinunter zwischen die Schulterblätter bis zum Kreuz bahnte. Von einem klumpigen, schmutzig rosa Häufchen Erbrochenem flogen träge ein paar dicke Fliegen auf, bevor sie sich auf seinen Nacken setzten, um sich an seiner Feuchtigkeit zu erfrischen. Er schlug nach ihnen, zerquetschte eine auf seiner Haut, wo eine rote Spur zurückblieb, und wischte sich die Finger am Schenkel ab. Schließlich setzte er seinen Weg fort, vorbei an der Sackgasse Sainte-Catherine. Eine Schar Kinder mit kotverschmierten Gesichtern vertrieb sich am Straßenrand lustlos die Zeit damit, Holzstecken ins Gerippe einer toten Ratte zu stoßen. Sie wichen kaum zur Seite, als Gaspard vorbeiging. Sein Knie stieß an die spitze Schulter eines Mädchens. Es fiel hin, um dann, ohne einen Blick, ohne eine Klage, wieder seine frühere Haltung einzunehmen. Lust überkam ihn, es zu packen, zu schütteln, aber er ahnte, dass es ihn nur aus scheelen, debilen Augen anglotzen würde.
Vor der Kirche Saint-Sauveur verkaufte ein Junge Wasser. Gaspard durchsuchte seine Taschen nach ein paar Sols, die er in die schwielige Hand drückte. Der Bengel schüttete etwas aus seinem Eimer in einen blechernen Becher, den er Gaspard hinstreckte. Am Rand waren die Spuren unbekannter Lippen zu sehen. Das Wasser stank nach Schlamm. Wahrscheinlich hatte das Kind seinen Eimer in der Seine gefüllt. Aber Gaspard hatte zu großen Durst. Das laue Wasser schmeckte, wie es roch.
Während er trank, betrachtete er den hervorstehenden Unterkiefer des Jungen. Die unteren Zähne überragten die oberen. Die verschrumpelte Spitze einer Zunge schob sich in den Zwischenraum, versuchte, die Lippen zu befeuchten. Gaspard rülpste, gab die Tasse zurück, und der Bengel zog davon. Das Wasser hatte ihn nicht erfrischt. Er kratzte sich an der Stelle, an der die Fliegen geschleckt hatten, und bog schließlich nach rechts in die Rue du Renard ein, irrte ein wenig durch das Straßengewirr. Die Hitze ließ nicht nach, der Himmel funkelte. Aus einem Stockwerk wurde ein Nachttopf geleert. Ein fäkaler Saft klatschte ein paar Schritte vor ihm auf den Boden, bespritzte den Saum seiner Hose. Einen Laufjungen traf der Matsch mitten im Gesicht. Dieser spuckte aus, wischte sich mit dem Ärmelaufschlag ab, blickte hinauf zu der bereits wieder leeren Häuserwand. »Elende Sau!«, schrie er die stummen Fenster an. Er zögerte einige Sekunden, bevor er auf eine schief in ihren Angeln hängende Tür losstürzte. Gaspard hörte ihn die Treppe hinaufrennen und bald darauf Schläge, erstickte Schreie. Er setzte seinen Weg fort, bog nach links in die Rue du Petit-Lion.
Die ganze Vorstadt war stickig. Da war der Schweiß, aber auch Gerüche nach säuerlichem Atem, nach Moder, Tieren, feuchtem Stein und Holz, Urin, Kohl, muffigen Behausungen, Pferdeäpfeln, Pferdeschaum, Hundefellen, dreckigen Geschlechtern, schwärenden Körpern, ranzigem Sperma. Das stinkt ärger als hundert Schweine auf einmal und ist doch dem Schweinestall hundertmal vorzuziehen , dachte Gaspard. Er war erstaunt, dass er an Quimper dachte, oder zumindest an etwas, das mit Quimper in Verbindung stand. Denn Paris berauschte ihn. Paris, das war das Versprechen auf einen Beruf, aber auch das Verbindungsgelenk der Extreme. Hier lebte die Bourgeoisie Wand an Wand mit dem gemeinen Volk, hier bekam der Dreck einen Goldrand. Man hatte ihm von der Straße nach Versailles erzählt, den Monumenten mit den hohen Spitzen, den wie metallene Brüste dem Himmel entgegengewölbten Kuppeln, von den Häusern der Seineufer, die von einem Kalkweiß waren, das man hier, wo das geringste Grau Weiß genannt wurde, nicht kannte, und von Gärten mit fettem Gras. Gaspard würde nach Versailles gehen, das stand fest. Diese Gewissheit erlaubte es ihm, Saint-Denis, aber auch sich selbst, etwas gelassener zu sehen. Wie er durch die Stadt irrte und durch den Morast watete – alles trug dennoch die Hoffnung seines Aufstiegs. Aber was hatte er von der Stadt zu erwarten? Er war nicht adelig, völlig unbedeutend, hervorgegangen aus dem Aufeinandertreffen einer nach Sau stinkenden Frau und einem grimmigen Schatten.
Wieder musste sich Gaspard die Stirn wischen. Er wusste nicht wohin, wollte zur Seine, sie aber nicht zu schnell erreichen. Er zog es
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