Die Farbe der Liebe
älter als dreizehn, der seine Schuluniformjacke mit einem blauen Trikot des FC Chelsea, mit zerrissenen Jeans und schweren Arbeitsstiefeln kombiniert hatte, rempelte Siv an.
»Pass doch auf!«, rief sie.
Der Junge blieb stehen und bedachte sie mit einem bösen Blick. Offenbar suchte er noch nach einer passenden Entgegnung, doch beim Anblick von Siv, die sich in ihrer schwarzen Strumpfhose und Jeansshorts breitbeinig und mit flammender Wut im Gesicht vor ihm aufbaute, zog er es vor zu kneifen.
Obwohl Siv nicht groß war, wirkte sie mit ihren kurzen blonden Haaren, als wäre mit ihr nicht gut Kirschen essen. Der Junge senkte den Blick und trollte sich. Rasch hatte er seine Freunde eingeholt.
Und schon wurden die Freundinnen wieder vom Lärm des Jahrmarkts umfangen – Lachen, Rufe und Fetzen von vorsintflutlichen Popsongs, die sich zwischen den Buden und Zelten zu übertönen versuchten. Dazu gesellten sich das Scheppern aus den Wurfbuden und plötzlich auch das Zischen von Flammen, als ein Feuerjongleur seine Fackeln mit neuem Wachs umgab und sie dabei dramatisch aufzüngeln ließ. Aurelia blinzelte ihm zu und wurde dafür von ihm mit einem breiten Grinsen bedacht, ehe er wieder den Abendhimmel mit seinen leuchtenden Kreisen erhellte.
»Sei doch nicht immer so aggressiv!«, hielt Aurelia ihrer Freundin vor, obwohl sie längst an ihre Ausbrüche gewöhnt war. Siv hatte in ihrem Wesen etwas Aufsässiges, ständig kämpfte sie allein gegen den Rest der Welt, ein Zug, der sich schon in ihren ersten gemeinsamen Grundschuljahren gezeigt hatte. Die stets in ihr köchelnde Wut auf alles und jeden war wohl eine Art Kompensation für ihre mangelnde Körpergröße und vermeintlich zarte Statur. Und obwohl Aurelia sie von Anfang an überragt hatte – mittlerweile war sie einen ganzen Kopf größer –, hatte Siv gleich die Rolle der Beschützerin übernommen. Sie würde kämpfen wie eine Löwin, falls sich irgendein Rüpel anmaßte, Aurelia zu nahe zu treten. Was aber nie einer wagte, weil Siv für ihre Angriffslust bekannt war.
Aurelia würde nie vergessen, wie sie einmal in der Schule – die Mädchen waren noch nicht einmal zehn – fälschlich einer kleineren Missetat beschuldigt wurde. Siv, winzig, wie sie war, war aufgestanden und hatte den Lehrer mit hochrotem Kopf und schnaubend vor Empörung angefahren: »Das ist ungerecht!« Dass sie daraufhin beide nachsitzen mussten, hatte den Grundstein zu ihrer unverbrüchlichen Freundschaft gelegt.
»Ich kann doch nicht zulassen, dass diese Londoner Rotzlöffel uns Mädchen vom Lande dumm anmachen, oder?« Siv grinste.
Aurelia lächelte, sagte aber nichts. Warum sollte sie sich den Tag verderben lassen? Schon seit Ewigkeiten hatten sie diesen Ausflug als Höhepunkt ihrer Herbstferien geplant. Sie wollten nicht nur den Tag, sondern auch den ganzen Abend in London verbringen und den Jahrmarkt von Hampstead Heath in vollen Zügen genießen. Allerdings hatten sie Sivs Eltern versprochen, um Mitternacht wieder zu Hause zu sein. Eigentlich waren sie alt genug, zu tun und zu lassen, was sie wollten, aber da ihnen nun mal der Ruf anhing, nur Dummheiten anzustellen, fanden sie es um des lieben Familienfriedens willen einfacher, immer brav Bescheid zu sagen, wie lange sie wegbleiben wollten.
Andere Mädchen aus ihrer Klasse waren bereits in den vergangenen Weihnachtsferien auf diesem Jahrmarkt gewesen und hatten davon in höchsten Tönen geschwärmt. Doch Aurelia hatte sich kaum vorstellen können, dass sie hier etwas anderes vorfinden würde als auf den Rummelplätzen in der Nähe ihres Wohnorts an der Südküste. Vielleicht würden das Riesenrad etwas größer, die Karussells ein bisschen schneller, die Gondeln etwas bunter sein. Das erklärte jedoch noch nicht, warum sie unbedingt auf den Jahrmarkt von Hampstead Heath gehen wollte, statt in den Klubs im Westend die Tanzfläche zu stürmen – was mit den Ausweisen, die Siv von Mitschülerinnen geborgt hatte, die schon über achtzehn waren, problemlos möglich wäre. Warum also verspürte sie in ihrem Herzen und in ihrer Magengrube so ein Gefühl von Vorfreude und angestauter Erwartung?
An der Kasse des Autoscooters saß ein weißhaariger, ganz in Schwarz gekleideter, mürrischer Mann. Siv fischte ein paar Münzen aus ihrer Tasche und kaufte bei ihm Chips für drei Fahrten. Dann stellten sich die beiden Mädchen am Rand auf, um zu warten, bis sie das Gefährt besteigen könnten, das ihnen am besten gefiel: Lack in Rotmetallic,
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