Die Farbe der Nacht: Roman (German Edition)
Opossumschädel, der noch immer nach Verwesung roch. Schlangenhäute, die er gefunden hatte, waren an die Dachsparren genagelt und zitterten leicht, wenn es zog.
Komm rauf, Mae
, sagte mein Bruder.
Ich will dir was zeigen
.
9
Das Gewehr habe ich von einem Freund … oder eher einem Bekannten.
Fickfreund
sagen die Kids heute dazu. Ich könnte ihn Pauley nennen. Als ich ihn kennenlernte, habe ich im Showboat als Croupière gearbeitet, aber das ist schon eine Weile her.
Pauley lebt in Vegas, aber eigentlich lebt er überall. Er pendelt viel zwischen West- und Ostküste hin und her. Er findet Leute; damit verdient er sein Geld. Anscheinend ist er richtig gut darin, Leute zu finden, die nicht gefunden werden wollen, und oft ist es dann auch das letzte Mal, dass sie gefunden werden. Oder das vorletzte Mal, in vielen Fällen. Wieder andere Fälle sind nicht ganz so ernst, glaube ich, aber im Grunde weiß ich es nicht. Ich rede mit Pauley nicht viel über seine Arbeit.
Das Gewehr war damals gebraucht. Das wusste ich, und ich wusste, dass Pauley ein gewisses Risiko einging, als er es mir überließ. Es rührte mich, dass er auf meine Verschwiegenheit vertraute.
Wo ich als Kind lebte, gehörten Schusswaffen zum Alltag, und als ich zwölf Jahre alt war, konnte ich schon mit Daddys 38er Smith & Wesson eine Bierdose vom Zaunpfahl schießen, ohne sie auch nur einmal zu verfehlen. Terrell und ich schlichen uns oft mit dem Revolver nach draußen, aber ich schoss wohl besser als er, wenn ich so richtig darüber nachdenke. Dieser alte .38er war bloß eine Durchschnittsknarre, aber Pauleys Gewehr war Perfektion in Reinkultur, wunderbar austariert und präzise bis auf den letzten Mikrometer. Einmal gingen wir nachts mit dem Vorsatz in die Wüste, dass er mir den Umgang mit der Waffe zeigen würde. Ich stellte eine Viertelliter-Wasserflasche auf seinen Kopf und schoss sie aus dreißig Schritt Entfernung runter. Auf fünfzig Schritt zu gehen, schien mir bei Mondlicht zu riskant, obwohl Vollmond war.
Eins muss ich Pauley lassen, der Vorschlag ließ ihn nicht zurückschrecken. Ich glaube, wir hatten beide vorher gekokst. Hinterher gingen wir zurück zu meinem Wohnwagen und vögelten wie die Wilden. Im Dunkeln, wie schon gesagt.
Die Wasserflasche lag auf dem bleichen Sand, und durch das Loch, das ich hindurchgeschossen hatte, lief das Wasser aus. Es war Sommer, und der Sand war selbst nachts noch heiß, und es dauerte nicht mal eine Minute, bis das Wasser um die Flasche herum versickert und die Flasche selbst knochentrocken war.
Der Ausschnitt mit Laurel auf den Knien war 22,4 Sekunden lang, und nachdem ich ihn mir etwa hundert Stunden lang immer wieder angeschaut hatte, überlegte ich hin und her und rief dann Pauley an. Ich erzählte ihm von Laurel, so viel ich konnte, allerdings nicht das Eine, das selbst ihm das Herz hätte stocken lassen. Das war gar nicht so einfach. Pauley hatte eine sentimentale Seite, was vielleicht gar nicht so überraschend war, und er schien es irgendwie ganz süß zu finden, dass ich Kontakt zu einer verloren geglaubten Freundin aufnehmen wollte, die ich auf einem 9/11-Video gesehen hatte. Damals gab es so etwas öfter, ganz zu schweigen von den vielen Frauen, die sich urplötzlich in Feuerwehrmänner verliebten.
Außerdem muss es für Pauley eine ganz neue Erfahrung gewesen sein, jemanden aufzuspüren, dem er weder Angst einjagen noch irgendwie schaden sollte. Und er war ein guter, extrem guter Finder.
Wie sich herausstellte, lebte Laurel unter O.s früherem Namen. Ich fragte mich unwillkürlich, was sie sich dabei gedacht hatte, sich ausgerechnet den auszusuchen.
10
Nicht sehr lange nachdem es angefangen hatte, begann ich zu begreifen, dass mein Bruder mich für irgendetwas abhärtete. Später verstand ich es besser, aber schon damals kam mir der Gedanke. Und vielleicht wusste er selbst es auch oder ahnte es irgendwie. Immer wenn er mich mal wieder in einem Feuerbecken aus Schmerz versenkte, stählte er mich für alles, was ich später würde ertragen müssen. Bereitete mich darauf vor, meine Bestimmung anzunehmen.
Natürlich war er selbst ein Sterblicher, und Thetis war das nicht. Doch mein Bruder starb wie ein Gott! Er nahm all seine Bediensteten mit – alle. Bis auf mich.
11
Ich hatte noch immer alle alten Platten von O., wenn auch die meisten davon wahrscheinlich verkratzt waren. Die Bilder von ihm auf den Hüllen wellten sich an den Stellen, wo vor langer Zeit mal was drauf verschüttet
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