Die Farben der Zeit
nicht umgehend in der Sakristei erscheine. Lady Schrapnell wünscht, daß ich die Kerzen in den Kapellen entzünde.« Hastig schnappte er Monitor und Computer. »Ich fang am besten mal damit an. Sieht so aus, als ginge es gleich los.«
So war es. Die Chorknaben und die Dekane hatten sich mehr oder weniger aufgereiht, die Frau in der grünen Schürze sammelte Scheren, Buketts und Blumenpapier ein, der Junge war unter der Chorbank hervorgekrochen. »Klemmt die Trompetenpfeife immer noch?« rief jemand vom hohen Chor herunter und der Organist rief zurück: »Nein.« Carruthers und Miss Warder standen am Südportal, eng umschlungen, die Arme vollgepackt mit Gottesdienstordnungen. Ich ging ins Hauptschiff, um Verity zu finden.
»Wo haben Sie gesteckt?« dröhnte Lady Schrapnell mir von oben herab ins Ohr. »Ich habe Sie überall gesucht.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Und? Ich dachte, Sie hätten des Bischofs Vogeltränke gefunden? Wo ist sie? Oder haben Sie sie etwa wieder verloren?«
»Nein«, entgegnete ich. »Sie ist dort, wo sie hingehört. Vor der Chorschranke der Smithschen Kapelle.«
»Das muß ich sehen.« Sie machte sich auf den Weg ins Kirchenschiff hinunter.
Ein Trompetenton ertönte, und der Organist stimmte »Groß und gewaltig ist der Herr«, an. Die Chorknaben öffneten ihre Gesangbücher. Carruthers und Miss Warder lösten sich voneinander und nahmen ihre Position ein.
»Dafür ist keine Zeit mehr«, sagte ich zu Lady Schrapnell. »Die Einweihung beginnt.«
»Unsinn.« Sie drängte sich zwischen den Chorknaben hindurch. »Es ist Zeit genug. Die Sonne ist noch nicht rausgekommen.«
Sie zwängte sich durch die Reihen der Dekane, die sich teilten wie weiland das Rote Meer, und machte sich auf den Weg zur Smithschen Kapelle. Ich folgte ihr und hoffte nur, daß des Bischofs Vogeltränke sich nicht plötzlich wieder in Luft aufgelöst hatte. Hatte sie auch nicht. Sie stand immer noch am selben Platz, auf ihrem schmiedeeisernen Ständer. Die Frau mit der grünen Schürze hatte sie mit einem liebevoll arrangierten Strauß weißer Osterglocken bestückt.
»Da ist sie.« Ich zeigte stolz darauf. »Nach unsagbaren Strapazen und Prüfungen. Des Bischofs Vogeltränke. Was halten Sie davon?«
»Mein Gott«, sagte sie und preßte die Hand aufs Herz. »Sie ist wirklich scheußlich, finden Sie nicht auch?«
»Was?«
»Meiner Urur-Urgroßmutter mag das ja gefallen haben, aber meine Güte! Was soll das darstellen?« Sie zeigte auf den Fuß der Vase. »Einen Dinosaurier oder was?«
»Die Unterzeichnung der Magna Charta«, sagte ich.
»Es tut mir beinahe leid, daß ich Ihnen so viel Unannehmlichkeiten wegen dieses Dings gemacht habe«, sagte sie mit nachdenklichem Blick auf die Vogeltränke. »Wahrscheinlich unzerstörbar, oder?« In ihrer Stimme schwang eine leise Hoffnung.
»So ist es«, sagte ich.
Sie seufzte. »Nun, ich denke, wir müssen sie um der Authentizität der Kathedrale willen behalten. Ich hoffe nur, die anderen Kirchen besitzen nichts ähnlich Scheußliches.«
»Andere Kirchen?«
»Haben Sie es noch nicht gehört?« sagte Lady Schrapnell. »Jetzt, wo wir imstande sind, unwichtige Objekte durchs Netz zu bringen, habe ich eine ganze Reihe Projekte im Kopf. Das Erdbeben von San Francisco, die Ateliers von MGM, Rom, bevor Julius Cäsar es…«
»Nero«, verbesserte ich.
»Ach ja, natürlich. Sie werden die Fiedel holen, auf der Nero spielte.«
»Aber die ist nicht im Feuer verbrannt«, sagte ich. »Nur Objekte, die auf ihre Grundbestandteile reduziert worden sind, können…«
Lady Schrapnell unterbrach mich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden. Wir beginnen mit den vierzehn Kirchen von Christopher Wren, die während des Blitzkriegs zerstört wurden und dann…«
»Wir?« fragte ich mit schwacher Stimme.
»Natürlich. Ich habe besonders Sie dafür angefordert.« Sie hielt inne und starrte auf des Bischofs Vogeltränke. »Was sollen die Osterglocken? Gelbe Chrysanthemen sollten es sein.«
»Osterglocken passen doch ausgezeichnet«, sagte ich. »Schließlich ist die Kathedrale mitsamt ihren Schätzen von den Toten erstanden. Der Symbolgehalt…«
Lady Schrapnell interessierte der Symbolgehalt nicht. »In der Gottesdienstordnung steht gelbe Chrysanthemen«, sagte sie. »Gott steckt im Detail.«
Sie stürmte davon, um die wehrlose Frau mit der grünen Schürze zu suchen.
Ich blieb stehen und starrte auf des Bischofs Vogeltränke.
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