Schwaben-Freunde: Kommissar Braigs 16. Fall (Schwaben-Krimi) (German Edition)
1. Kapitel
November
Der Tag, der zum Albtraum ihres Lebens werden sollte, hatte friedlich begonnen. Nicht einmal der kleinste Hinweis auf das schreckliche Geschehen, das sie aus all ihren Träumen reißen sollte, hatte sich erahnen lassen. Das Unheil brach über sie herein wie eine schwere Gewitterfront mitten in einer stockdunklen Nacht.
Nele Harttvallers Ausflug auf die Schwäbische Alb war lange vorher geplant gewesen. Seit Wochen hatte sie sich auf den Besuch bei ihrer alten Freundin gefreut. Endlich wieder die Person zu treffen, mit der sie entscheidende Phasen ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatte, versprach die Erinnerung an alte, im Alltagstrott längst verschüttete Augenblicke. Erlebnisse, Diskussionen und Auseinandersetzungen mit Eltern, Mitschülern und Lehrern, erste unbeholfene Annäherungen an Vertreter des anderen Geschlechts – im gemeinsamen Austausch wurden viele, fast zwei Jahrzehnte zurückliegende Momente wieder wach.
Unübersehbar von Wiedersehensfreude erfüllt, waren sie sich am späten Morgen in die Arme gefallen und hatten sich ihre Töchter gegenseitig vorgestellt. Von der ersten Minute ihrer Begegnung an verstanden sie sich gut, war ihr Leben bisher doch in ähnlichen Bahnen verlaufen: Studium, Beruf, Karriere; dann erst mit Anfang dreißig die endgültige Entscheidung für den festen Partner. Und jetzt, kurz vor dem biologischen Toresschluss, wie Nele Harttvaller diesen Zeitpunkt selbst zu umschreiben pflegte, das eigene Kind. Wie sie selbst war auch ihre Freundin vor wenigen Jahren aus dem Beruf ausgestiegen und hatte sich ganz ihrem Nachwuchs gewidmet; eine Entscheidung, die beide nur in seltenen, von außergewöhnlichem Stress geprägten Momenten bereut hatten.
Elena und Anna bei guter Laune zu halten, erwies sich schnell als problemloses Unterfangen; die beiden Mädchen fanden ohne Scheu schnell zueinander und beschäftigten sich mit verschiedenen Spielen. Die Tage verflogen in rasendem Tempo, angefüllt mit unerschöpflichen Kaskaden alter Erinnerungen, reichhaltigem Essen und ausgiebigem Kaffeegenuss. Dass sie all den vielen Köstlichkeiten viel zu stark zugesprochen hatte, wurde Nele Harttvaller erst auf der Rückfahrt bewusst. Spät, lange nach dem Einbruch der Dunkelheit, hatte sie sich von ihrer Freundin und deren Tochter verabschiedet.
»Warum übernachtest du nicht bei uns? Wir könnten den Rest des Abends in alten Zeiten schmökern. Und die Mädchen verstehen sich doch auch prächtig. Andreas hat nichts dagegen, im Gegenteil, der freut sich, wenn ihr bleibt. Willst du es dir nicht noch überlegen? Ruf deinen Mann an und gib ihm Bescheid.«
Wie oft sie in den folgenden Tagen an das Angebot Marissa Leitners gedacht, wie sehr sie es bereut hatte, es nicht angenommen zu haben, sie wusste es nicht zu sagen. Wenn, ja, wenn … Alles wäre anders verlaufen, der schlimmste Albtraum ihres Lebens nicht wahr geworden …
Winkend und immer wieder in den Rückspiegel blickend startete sie den Wagen, Elena hinter sich im Kindersitz verstaut. Der anfängliche Protest der Kleinen: »Mit Anna spielen!« verstummte schnell, wich nach kurzem Quengeln ruhigen Atemzügen. Dankbar über den Schlaf ihrer Tochter versuchte sie, sich auf die vom Licht ihrer Scheinwerfer nur notdürftig erhellte Straße zu konzentrieren. Die Sicht reichte nur wenige Meter weit. Dichte, herbstliche Nebelbänke lagen auf der Hochfläche der Alb. Sie fuhr langsam, hatte Mühe, die Fahrbahn vor ihr zu erkennen. Einzelne Bäume und Büsche huschten vorbei, ab und an ein entgegenkommendes Auto.
Den Druck ihrer vollen Blase spürte sie schon wenige Minuten, nachdem sie Glupfmadingen verlassen hatte. Sie erhöhte das Tempo, bemerkte die gleißenden Lichter des plötzlich aus dem Nebel auftauchenden Fahrzeugs erst in letzter Sekunde, riss das Steuer nach rechts. Ein heftiger Adrenalinstoß flutete ihren Blutkreislauf, beschleunigte ihren Herzschlag. Sie bremste den Wagen wieder ab, starrte nach vorne. Schneller zu fahren, nur um baldmöglichst zu Hause ihrem Bedürfnis nachkommen zu können, war viel zu riskant. Angesichts der dicken Suppe draußen bedeutete das, ihre und Elenas Gesundheit und Leben aufs Spiel zu setzen. Das war es nicht wert. Sie musste versuchen, dem Druck standzuhalten.
Kurz hinter Würtingen wurde ihr klar, dass das nicht zu schaffen war. Sie hatte einfach zu viel getrunken. Kaffee, Saft, Wasser, Tee – sie wusste nicht mehr genau, wie viel von all den reichhaltig dargebotenen Getränken
Weitere Kostenlose Bücher