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Die Flüchtende

Die Flüchtende

Titel: Die Flüchtende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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dem Leben Sinn. Höhere Ansprüche stellte man dann wahrscheinlich nicht. Ihr Leben aus dem Rucksack hatte sie jedenfalls gelehrt, die kleinen Dinge des Daseins zu schätzen. Dinge, die für die meisten so selbstverständlich waren, dass sie es nicht einmal merkten, wenn sie ihnen begegneten.
    So hatte sie auch einmal gelebt, sie wusste also, wovon sie redete. Auch wenn es mittlerweile ziemlich lange her war.
    Die Direktorentochter Sibylla Wilhelmine Beatrice Forsenström. Sie hatte täglich so selbstverständlich gebadet, als ob das ein Menschenrecht wäre. Vielleicht war es das auch, aber den Wert des Ganzen entdeckte man doch erst, wenn man keine Möglichkeit mehr dazu hatte.
    Sibylla Wilhelmina Beatrice Forsenström.
    War es denn merkwürdig, dass es ihr nie gelungen war, sich einzufügen? Schon bei der Taufe wurde ihr ein lebenslängliches Handicap zuteil.
    Sibylla.
    Selbst minder begabte Kinder in der Schule von Hultaryd entwickelten ein enormes Talent, wenn es darum ging, Reime auf ihren Namen zu finden. Dass man an der Imbissbude im Zen-trum Würstchen mit diesem Namen verkaufte und den Passanten dies beflissen mittels eines Leuchtschilds kundtat, machte die Sache nicht besser. Nun reimte sie sich auch auf Würstchen. An allen Enden. Als sich schließlich Wilhelmina und Beatrice auch noch überall herumgesprochen hatten, kannte der Erfindungsreichtum keine Grenzen mehr.
    Unser Kind ist einzigartig! Sicherlich. Aber wessen Kind ist das nicht?
    Das war ja klar. Man durfte nicht das geringste Risiko eingehen, dass sie mit einem dieser kleinen, gewöhnlichen Arbeiterkinder verwechselt wurde, mit denen sie in ihrer Kindheit den Schulalltag teilte. Sibyllas Mutter war peinlich darauf bedacht, die Sonderstellung ihrer Tochter herauszustreichen, und das wiederum legitimierte die anderen Kinder dazu, sich von ihr fernzuhalten. Für Beatrice Forsenström war es wichtig, dass Sibylla ihren Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie kannte, vor allem aber, dass ihre Umgebung ihn kannte. Nichts konnte vor ihrer Mutter jemals bestehen, bevor es in den Augen anderer begehrenswert war. Nur durch deren Bewunderung und Neid konnten die Dinge ihren wahren Wert bekommen.
    Die Eltern fast aller Kinder in ihrer Klasse waren in der Fabrik ihres Vaters angestellt. Außerdem hatte er eine bedeutende Position im Gemeindevorstand inne, wo sein Wort schwer wog. Die Arbeitsplätze in Hultaryd standen und fielen mit ihm und alle Kinder wussten das. Aber sie suchten noch keine Arbeit, und die meisten von ihnen hatten in diesem Alter großartigere Visionen vom Leben als die, den Platz ihrer Mutter oder ihres Vaters an den Maschinen von Forsenströms Metall & Schmiede einzunehmen. Sie konnten sich auf den Gängen also durchaus ein paar Reime leisten.
    Als ob Direktor Forsenström das kratzte!
    Er war vollauf damit beschäftigt, sein erfolgreiches Familienunternehmen zu führen. Für Kindererziehung hatte er weder
    Zeit noch Interesse, und man konnte ihm schwerlich vorwerfen, den echten Teppich auf dem Weg zu Sibyllas Zimmer in dem großen Herrenhaus abgetreten zu haben. Morgens verließ er das Haus und abends kam er zurück, und ihre Mahlzeiten nahmen sie am selben Esstisch ein. Dort saß er, meist tief in Gedanken oder Papiere und Tabellen versunken, am einen Ende. Davon, was sich hinter seinem korrekten Äußeren abspielte, hatte sie keine Ahnung. Sie aß brav ihren Teller leer und verließ den Tisch, sobald sie die Erlaubnis dazu erhielt.
    «So. Du gehst nun nach oben und legst dich schlafen.»
    Sibylla erhob sich und machte Anstalten, ihren Teller hinauszubringen.
    «Lass stehen. Das macht Gun-Britt nachher.»
    In der Schule mussten sie selbst abräumen. Es war immer so schwierig, sich zu merken, welche Regeln dort und welche zuhause galten. Sie ließ also ihren Teller stehen, ging zu ihrem Vater und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
    «Gute Nacht, Vater.»
    «Gute Nacht.»
    Sibylla ging zur Tür.
    «Sibylla . Hast du nicht etwas vergessen?»
    Sie drehte sich um und sah ihre Mutter an.
    «Kommst du nicht nach oben, um gute Nacht zu sagen?»
    «Sibylla. Du weißt doch, dass ich mittwochs zum Damenklub gehe. Wann wirst du dir das endlich merken?»
    «Verzeihung.»
    Sibylla ging zu ihrer Mutter und küsste sie flüchtig auf die Wange. Diese roch nach Puder und nach einen Tag altem Parfüm.
    «Frag Gun-Britt, wenn du Hilfe brauchst.»
    Gun-Britt war die Hausangestellte, die den Part am Saubermachen, Kochen und an der

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