Bonjour Tristesse
ERSTES KAPITEL
I ch zögere, diesem fremden Gefühl, dessen
sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben:
Traurigkeit. Es ist ein so ausschließliches, so egoistisches Gefühl, daß ich
mich seiner fast schäme — und Traurigkeit erschien mir immer als ein Gefühl,
das man achtet. Ich kannte es nicht; ich hatte Kummer empfunden, Bedauern und
manchmal Reue. Jetzt hüllt mich etwas ein wie Seide, weich und ermattend, und
trennt mich von den anderen.
Ich war siebzehn Jahre alt in jenem
Sommer. Und ich war vollkommen glücklich. Die »anderen« waren mein Vater und
Elsa, seine Geliebte. Diese Zusammenstellung mag befremdend klingen, und ich
will sie gleich erklären. Mein Vater war vierzig Jahre alt und seit fünfzehn
Jahren verwitwet; er war jung, voller Lebenskraft, voller Möglichkeiten; wie hätte
ich, als ich zwei Jahre zuvor aus dem Pensionat gekommen war, nicht verstehen
sollen, daß er mit einer Frau zusammenlebte? Daß er diese Frau alle sechs
Monate wechselte, sah ich weniger schnell ein. Aber sein Charme, das neue,
unbeschwerte Leben, das ich führte, und meine Veranlagung halfen mir, auch das
sehr bald zu verstehen. Er war ein leichtlebiger Mensch, geschickt in seinem
Beruf, immer begierig nach neuen Erlebnissen und schnell ihrer überdrüssig —
und er gefiel den Frauen. Es machte mir keine Schwierigkeiten, ihn von ganzem
Herzen zu lieben, denn er war gut, großzügig, fröhlich und voller Zuneigung für
mich. Ich kann mir keinen besseren und unterhaltsameren Freund vorstellen als
ihn. Zu Beginn jenes Sommers ging er in seinem Zartgefühl sogar so weit, mich
zu fragen, ob die Gesellschaft von Elsa, seiner damaligen Geliebten, mir
während der Ferien nicht lästig sein würde. Aber ich redete ihm im Gegenteil
zu, denn ich wußte, daß er Frauen brauchte und daß uns Elsa im übrigen nicht
auf die Nerven gehen würde. Sie war groß und rothaarig und mondän und trat in
den Ateliers und Bars der Champs Elysees auf. Sie war sympathisch, eher
einfach, und stellte keine großen Ansprüche. Außerdem freuten mein Vater und
ich uns zu sehr darauf, wegzufahren, um uns durch irgend etwas stören zu
lassen. Er hatte eine große, weiße, bezaubernde Villa am Mittelmeer gemietet,
und wir träumten schon seit den ersten heißen Junitagen von ihr. Sie lag
abseits, auf einem Felsvorsprung, der in das Meer hinausragte, und ein
Fichtenwald verbarg sie vor der Straße; ein Ziegenpfad schlängelte sich zu
einer kleinen, goldgelben Bucht hinab, wo das Meer sich zwischen roten Felsen
wiegte.
Die ersten Tage waren strahlend schön.
Wir verbrachten viele Stunden, ganz zerschlagen von der Hitze, am Strand und
nahmen langsam eine gesunde, goldbraune Farbe an. Nur die arme Elsa wurde
krebsrot und schälte sich unter furchtbaren Qualen. Mein Vater machte
komplizierte Beinübungen, um die ersten Ansätze eines Bauches zu bekämpfen, der
sich mit seiner Rolle eines Don Juan nicht hätte vereinbaren lassen. Ich war
vom frühen Morgen an im Wasser; es war frisch und durchsichtig, und ich grub
mich hinein und tobte mich aus. Ich wollte mich von allen Schatten und allem
Schmutz der Stadt reinigen. Dann streckte ich mich im Sand aus, ergriff eine
Handvoll und ließ ihn in einem weichen, gelblichen Strahl durch meine Finger
rinnen. Er verrinnt wie die Zeit, sagte ich mir — was für ein einfacher
Gedanke, und wie angenehm war es, einfache Gedanken zu haben! Es war Sommer.
Am sechsten Tag sah ich Cyril zum
erstenmal. Er fuhr in einem kleinen Segelboot an der Küste entlang und kenterte
gerade vor unserer Bucht. Ich half ihm, seine Sachen zu retten, und inmitten
unseres Gelächters erfuhr ich, daß er Cyril hieß, daß er Rechtswissenschaft
studierte und daß er mit seiner Mutter in einer benachbarten Villa die Ferien
verbrachte. Er hatte das Gesicht eines Südländers, sehr dunkel, sehr offen, und
es ging etwas Beschützendes und eine wohltuende Ruhe von ihm aus, die mir
gefiel. Im allgemeinen mied ich die Universitätsstudenten. Sie waren brutal, zu
sehr mit sich selbst und vor allem mit ihrem Jungsein beschäftigt, in dem sie
den Stoff für ein Drama oder den Vorwand für ihre Lebensmüdigkeit sahen. Ich
hatte nicht viel übrig für die Jugend. Ich zog die Freunde meines Vaters vor,
Männer von Vierzig, die mich mit ausgesuchter, fast gerührter Höflichkeit
behandelten und mir mit einer Zartheit begegneten, in der etwas von einem Vater
und etwas von einem Liebhaber war. Aber Cyril gefiel mir. Er war
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