Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
entfernten Arbeitsstelle an und behauptete, ich sei achthundert Kilometer entfernt, in den weißen Hügeln, die man in den Fernsehnachrichten sah. Ich stammte von dort, von der Rhône, aus den Alpen, das wussten sie, und sie wussten nicht, was Gebirge waren und auch nicht, was Schnee war, alles passte zusammen, es gab keinen Grund, warum nicht auch ich durch den Schnee von der Welt abgeschnitten sein sollte.
Dann fuhr ich zu meiner Freundin, die am Bahnhof wohnte.
Sie war nicht überrascht, sie hatte mich erwartet. Auch sie hatte den Schnee gesehen, die Flocken im Fenster und das Schneegestöber in den anderen Teilen Frankreichs im Fernsehen. Sie hatte mit jener zarten Stimme, die sie am Telefon annehmen konnte, bei ihrer Arbeitsstelle angerufen und gesagt, sie sei krank, sie habe diese schwere Grippe, die ganz Frankreich heimsuchte und von der im Fernsehen berichtet wurde. Sie könne heute nicht kommen. Als sie mir die Tür öffnete, war sie noch im Nachthemd, ich zog mich aus und wir legten uns in ihr Bett, geschützt gegen den Sturm und die Krankheit, die Frankreich heimsuchten, denn schließlich gab es keinen, absolut keinen Grund, warum wir davon verschont bleiben sollten. Wir waren genauso Opfer wie alle anderen. Wir schliefen geruhsam miteinander, während draußen noch immer etwas Schnee fiel, Flocke für Flocke schwebte hinab, ehe sie auf dem Boden landeten, sie hatten es nicht eilig.
Meine Freundin wohnte in einem Appartement, einem Zimmer mit einer Nische, die ganz von einem Bett ausgefüllt wurde. Ich fühlte mich in ihrer Nähe sehr wohl, und nachdem unsere Lust befriedigt war, kuschelten wir uns unter die Steppdecke und genossen die ruhige Wärme eines zwanglosen Tages, an dem niemand wusste, wo wir waren. Ich fühlte mich wohl in meiner warmen, gestohlenen Nische, neben ihr und ihren mehrfarbigen Augen, die ich so gern mit einem grünen und einem blauen Buntstift auf braunem Papier gezeichnet hätte. Nur eine Zeichnung hätte das wunderbare Licht ihrer Augen zur Geltung bringen können, aber ich zeichnete sehr schlecht. Es mit Worten auszudrücken, reicht nicht, man muss es zeigen. Die herrliche Farbe ihrer Augen ließ sich nicht in Worte bringen. Man musste sie zeigen. Aber etwas zu zeigen, das lässt sich nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln – die blöden Fernsehsender bewiesen das im Winter 1991 jeden Tag aufs Neue. Der Fernseher stand ein paar Meter vor dem Bett, um den Bildschirm zu sehen, brauchten wir nur unsere Kopfkissen zusammenzudrücken, um den Kopf höher zu legen. Das Sperma spannte beim Trocknen die behaarte Haut auf meinen Schenkeln, aber ich hatte keine Lust, zu duschen, in dem kleinen Badezimmer war es kalt, und ich fühlte mich wohl in ihrer Nähe, wir sahen fern und warteten nur darauf, dass die Lust wiederkam.
Das große Thema im Fernsehen war Desert Storm , das Unternehmen Wüstensturm, ein aus den Star-Wars-Filmen entnommener, von Drehbuchprofis erfundener Name. Die französische opération daguet , das Unternehmen Schmalspießer, hoppelte mit seinen beschränkten Mitteln daneben her. Ein Schmalspießer ist ein kleiner, gerade geschlechtsreifer Hirsch, also ein größer gewordenes Bambi, dem die ersten Spieße gewachsen sind und das immer in der Nähe seiner Eltern herumhüpft. Wo nehmen die Militärs bloß ihre Namen her? Welcher Franzose kennt schon das Wort daguet ? Es muss wohl ein höherer Offizier vorgeschlagen haben, der auf den Ländereien seines Familienanwesens die Hetzjagd praktiziert. Desert Storm , das versteht jeder, von einem bis zum anderen Ende der Erde, das knallt auf der Zunge, explodiert im Herzen, das ist der Titel eines Videospiels. Daguet , Schmalspießer, hat etwas Vornehmes und ruft ein feines Lächeln bei jenen hervor, die das Wort verstehen. Die Armee hat ihre eigene Sprache, die nicht allen zugänglich ist, und das ist sehr verwirrend. Die französischen Soldaten sprechen nicht viel oder nur mit ihresgleichen. Darüber wird schon gewitzelt, man sagt ihnen eine tiefgründige Dummheit nach, die auf Worte verzichten kann. Was haben sie uns angetan, dass wir sie so verachten? Was haben wir getan, dass die Soldaten ausschließlich unter sich bleiben?
Die französische Armee ist ein Thema, das Verstimmung hervorruft. Man weiß nicht so recht, was man von diesen Typen halten und vor allem nicht, was man mit ihnen anfangen soll. Sie gehen uns mit ihren Baretten, ihren Regimentstraditionen, von denen niemand etwas wissen will, und ihrem teuren
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