Die Frau aus Alexandria
schon, wie es im Kopf der Weiber von da unten aussieht? Die sind nicht wie unsere Frauen, müssen Sie wissen. Aber immerhin hat sie es ganz schön weit gebracht. Es ist allgemein bekannt, dass sie die Geliebte von Mr Ryerson ist, einem Minister, der einen Wahlkreis in Manchester vertritt, wo die Regierung im Augenblick eine Menge Ärger wegen der Baumwollindustrie hat. Nein, nein, so eine Frau gibt sich nicht mit einem abgehalfterten Offizier ab, der den Fuß erst auf die unterste Sprosse der diplomatischen Leiter gesetzt hat. Ich würde sagen, der junge Mann war nicht bereit, sich mit ihrem Nein zufrieden zu geben, und sie wollte verhindern, dass er sich in ihre neue Affäre drängt und Mr Ryerson mit Geschichten aus ihrer Vergangenheit gegen sie aufbringt.«
»Haben Sie Beweise dafür?«, fragte Pitt. Er war wütend und wollte zeigen, dass Talbot unsauber gearbeitet hatte und von Vorurteilen ausging. Dennoch gelang es ihm nicht, Widerwillen gegen den Mann zu empfinden. Seine Aufgabe war heikel und undankbar. Pitt überlegte, was er wohl unter diesen Umständen getan hätte. Er wusste es beim besten Willen nicht. Auch er wäre zutiefst verärgert gewesen und hätte auf der Suche nach einer Lösung womöglich die Tatsachen außer Acht gelassen.
»Natürlich nicht!«, gab Talbot hitzig zurück. »Aber ich gehe jede Wette ein, dass ich in einem oder zwei Tagen welche habe, wenn mir nicht der Sicherheitsdienst oder sonst jemand dazwischenfuhrwerkt und mich in meiner Arbeit behindert. Immerhin liegt die Tat erst vier Stunden zurück.«
Es war Pitt bewusst, dass er den Mann ungerecht behandelte.
»Wie haben Sie den Toten identifiziert?«, fragte er.
»Er hatte Visitenkarten in der Tasche«, sagte Talbot und setzte sich wieder aufrecht hin. »Die Frau hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie ihm abzunehmen. Sie konnte wohl an nichts anderes denken als daran, dass sie ihn aus dem Weg schaffen musste.«
»Hat sie das gesagt?«
»Herrgott noch mal!«, brach es aus Talbot heraus. »Meine Leute haben sie mit der Leiche quer über einer Schubkarre im Garten hinter ihrem Haus angetroffen. Was könnte sie sonst mit ihm vorgehabt haben? Bestimmt wollte sie ihn nicht zum Arzt bringen. Er war schon tot. Statt die Polizei zu rufen, wie das ein schuldloser Mensch wohl getan hätte, hat sie die Schubkarre aus dem Schuppen im Garten geholt und den Mann draufgepackt, um ihn wegzufahren.«
»Wohin?«, fragte Pitt und versuchte sich vorzustellen, wie es in ihrem Kopf ausgesehen haben mochte.
Talbot sah leicht unbehaglich drein. »Sie weigert sich, darüber zu sprechen.«
Pitt hob die Brauen. »Und was ist mit Mr Ryerson?«
»Den habe ich nicht gefragt!«, blaffte ihn Talbot an. »Ich habe auch nicht die Absicht, es zu tun. Er war nicht da, als meine Leute am Tatort eintrafen, sondern ist erst kurz darauf gekommen.«
»Wie bitte?«, fragte Pitt ungläubig.
Talbot wurde rot. »Er ist erst kurz darauf gekommen«, wiederholte er stur.
»Wollen Sie mir etwa weismachen, dass er zufällig nachts um drei dort vorbeigekommen ist, gesehen hat, wie ein Wachtmeister mit seiner Lampe eine Frau anleuchtet, vor der eine Schubkarre mit einer Leiche steht, und sich erkundigt hat, ob er behilflich sein kann?«, fragte Pitt mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Er ist wohl mit der Kutsche vorgefahren und von der Straße aus in den Garten gegangen? Ist er nicht zufällig aus dem Haus gekommen – im Nachthemd?«
»Nein!«, gab Talbot scharf zurück, wobei glühende Röte sein schmales Gesicht übergoss. »Er ist vollständig angekleidet von der Straße her gekommen.«
»Wo zweifellos seine Kutsche stand?«
»Er hat gesagt, er habe eine Droschke genommen.«
»Um der Dame einen Besuch abzustatten, die darauf sichtlich nicht vorbereitet war«, sagte Pitt mit beißendem Spott. »Und das nehmen Sie ihm ab?«
»Was bleibt mir anderes übrig?« Talbot erhob zum ersten Mal die Stimme. Man hörte einen Anflug von Verzweiflung in seinen Worten. Offenbar stand er kurz davor, seine bis dahin mühsam bewahrte Fassung zu verlieren. »Ich weiß selbst, dass das idiotisch klingt! Natürlich war er schon vorher da. Er ist aus der Richtung des Pferdestalls gekommen. Vermutlich wollte er ein Pferd anschirren, um die Leiche mit dem Einspänner oder was die Frau hat, wegschaffen zu können. Das Haus liegt nur einen Steinwurf vom Hyde Park entfernt. Weiter hätten sie ihn nicht zu bringen brauchen. Natürlich wäre er da ziemlich bald gefunden worden,
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