Die Frau mit dem roten Herzen
»Beeilen Sie sich! Der Park wird gleich geschlossen!« Einmal hatten sie einen Sonderbericht eingereicht, um bessere Bezahlung für die Abendschicht zu fordern. Angesichts der dramatischen Wohnungsnot in Shanghai zog der Park viele Liebespaare an, die zu Hause keinerlei Privatsphäre hatten und leicht einmal die Zeit oder den öffentlichen Charakter des Ortes vergaßen. Aber der Sicherheitsdienst tat zuverlässig seine Arbeit. Zhang hatte darauf beharrt, daß nach der Schließung niemand sich im Park versteckt haben konnte, und Chen glaubte ihm.
Allerdings konnte jemand sich nach der Schließung eingeschlichen haben; über die Mauer zu klettern war nicht weiter schwierig. Jemand konnte einen anderen getötet und dann die Flucht ergriffen haben. Aber in dieser Gegend waren zu allen Nachtzeiten Autos und Fußgänger unterwegs. Ein solcher Vorfall wäre sicher bemerkt und gemeldet worden. Auch der Fundort in den Büschen sprach nicht für diese Vermutung; die Stelle wies keinerlei Kampfspuren auf. Zwei oder drei abgebrochene Äste waren alles, was Oberinspektor Chen entdecken konnte. Auch wies die Tatsache, daß die Leiche einen Pyjama trug, auf eine nächtliche, wohl in einem Zimmer verübte Tat hin, von wo aus man die Leiche in den Park geschafft hatte. Vielleicht war sie vom Fluß aus an Land geworfen worden. Die Ufermauer war an dieser Stelle nicht hoch. Bei hohem Flutpegel nachts konnte ein aus einem Boot geworfener Leichnam durchaus hier gelandet und in die Büsche gerollt sein. Das würde auch die Reihe dunkler Flecken erklären, die am Ufer zurückgeblieben waren.
Doch etwas irritierte Chen. Wer hier eine Leiche zurückließ, mußte mit ihrer unmittelbaren Entdeckung rechnen. Der Park lag im Herzen Shanghais und wur de täglich von Tausenden Menschen besucht. Warum legte man einen Toten ausgerechnet hier ab?
Da sah er die vertraute Gestalt von Hauptwachtmeister Yu, der mit einer Kamera über der Schulter durch den morgendlichen Dunst auf ihn zumarschiert kam. Ein großer, kräftiger Mann mit markanten Gesichtszügen und tiefliegenden Augen. Er war Chens bewährter Assistent, obwohl er einige Jahre älter war als sein Vorgesetzter. Außerdem war er der einzige unter den Kollegen, der nicht hinter Chens Rücken über dessen Karrieresprung lästerte. Dieser war auf Deng Xiaopings neue Kaderpolitik zurückzuführen, die Beamte mit Universitätsausbildung bevorzugte. Seitdem sie gemeinsam den Fall der nationalen Modellarbeiterin gelöst hatten, betrachtete Chen ihn als Freund.
»Hier?« fragte Yu ohne förmliche Begrüßung.
»Ja, hier.«
Yu begann aus verschiedenen Winkeln Fotos zu machen. Er kniete neben der Leiche, machte Nahaufnahmen und betrachtete die Wunden genau. Mit einem Maßband aus seiner Hosentasche maß er die Schnitte auf der Vorderseite der Leiche, bevor er sie umdrehte und die Wunden am Rücken untersuchte. Dann blickte er über die Schulter zu Chen hinauf.
»Irgendein Hinweis auf die Identität?«
»Nein.«
»Ich fürchte, wir haben es mit einem Triaden-Mord zu tun«, sagte Yu.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Schauen Sie sich die Verletzungen an. Das sind Axtwunden. Siebzehn oder achtzehn Stück. So viele wären nicht nötig gewesen. Die Zahl könnte etwas bedeuten. Das ist bei diesen Gangstern nicht unüblich. Der Schlag auf den Kopf war schon mehr als genug.« Yu stand auf und ließ das Maßband zurück in seine Tasche gleiten. »Schnittlänge zwischen sechzig und fünfundsiebzig Millimeter. Das spricht für eine ruhige Hand mit enormer Kraft. Keine Amateurarbeit.«
»Gut beobachtet.« Chen nickte. »Wo glauben Sie, hat der Mord stattgefunden?«
»Überall, bloß nicht hier. Der Typ hat ja noch seinen Schlafanzug an. Der Mörder muß die Leiche hierhergebracht haben. Als besondere Warnung. Auch das ist typisch für die Triaden. Sie hinterlassen eine Botschaft.«
»An wen?«
»Vielleicht an jemanden hier im Park«, sagte Yu. »Oder an einen, der rasch davon erfahren wird. Wenn sich das schnell herumsprechen soll, dann gibt es keinen besseren Ort als diesen Park.«
»Sie meinen also, die Leiche wurde hier abgelegt, damit sie gefunden wird?«
»Genau das.«
»Und womit sollen wir Ihrer Meinung nach anfangen?«
Yu antwortete mit einer Gegenfrage: »Ist das überhaupt unser Fall, Chef? Ich sage nicht, daß wir ihn nicht übernehmen sollten, aber eigentlich ist unsere Abteilung nur für politische Fälle zuständig.«
Chen konnte die Reserviertheit seines Assistenten durchaus
Weitere Kostenlose Bücher