Der Seher des Pharao
1
Huy stand in seinem Schlafzimmer, neben seiner Mutter Itu, die erschrocken auf die Spielsachen blickte, die so sorgfältig auf seinem Kinderbett aufgereiht waren. Obwohl es ein sonniger, hitzeflirrender Tag war, hatte der Luftzug, der durch das Fenster kam und eine Ecke von Huys Bettlaken anhob, noch etwas von der Kühle der vergangenen Nacht bewahrt. Huy bemerkte das nicht. Die Hände auf dem Rücken, starrte er trotzig seine Schätze an. Seine Mutter seufzte.
»Es muss etwas sein, das dir viel wert ist«, drängte sie ihn sanft. »Sodass der Gott merkt, dass es dir schwerfällt, es herzugeben.«
»Warum?«, platzte Huy heraus. »Warum muss ich ihm überhaupt etwas geben? Ich habe ihm noch nie etwas gegeben! Wir sind vorher noch nicht einmal zu seinem Haus gegangen!«
»Weil morgen der Jahrestag deiner Namensgebung ist. Das habe ich dir doch schon gesagt. Morgen wirst du vier Jahre alt, und du und ich und dein Vater werden zum Tempel von Chenti-Cheti gehen und ihm danken, dass du gesund und kräftig bist. Triff deine Wahl, Huy. Was ist mit deinen Farben?«
»Nein. Die habe ich von Onkel Ker und Tante Heruben bekommen. Sie wären böse, wenn ich sie weggeben würde. Oder haben sie mir neue mitgebracht?« Er sah seine Mutter fragend an. »Du wärst doch auch traurig, wenn ich nicht mehr malen könnte, oder?«
Die weiß getünchten Wände seines Elternhauses boten einen wunderbaren Malgrund für fette braune Nilpferde, gelbe Boote auf einem sattblauen Nil und Huys Selbstdarstellungen als Krieger mit einem Speer in der Hand. Huy hatte nicht die geringste Lust, auf dieses Vergnügen zu verzichten. Nein, die Palette musste zurück in seine Sykomorentruhe.
»Also gut.« Itus Stimme klang ein wenig missbilligend. »Dann etwas anderes.«
Huy überlegte. Was war mit dem Hund auf Rädern? Viele Male hatte er ihn durch den Garten gezogen, und das hölzerne Tier hatte dabei die Schnauze gleichförmig geöffnet und geschlossen. Huy hatte dann immer dazu gebellt. Doch sein Vater Hapu hatte viele Stunden gebraucht, um den Hund zu schnitzen, und wäre sicher noch ärgerlicher als Onkel Ker, wenn er ihn verschenkte. Und spielten Götter überhaupt mit so etwas?
Damit blieben nur noch die Kegel, der Lederball und der Kreisel übrig. Bestimmt nicht der Kreisel. Ihn durch das Haus zu treiben und zu neuem Wirbeln zu peitschen, wenn er langsamer wurde, war sein liebster Zeitvertreib an endlosen, öden Sommernachmittagen. Und die Kegel. Es machte Spaß, mit ihnen zu spielen, doch das wurde auch schnell langweilig, weil die Holzkugel nie ganz gerade rollte. Sein großer Lederball hingegen verlangte jemanden, der ihn fing und ihm wieder zuwarf. Das bedeutete, dass ihm Mutter oder Hapsefa ihre ganze Aufmerksamkeit schenkten. Nein, der Lederball also auch nicht. Chenti-Cheti würde das verstehen. Und als Gott könnte er der Holzkugel vielleicht sogar zu einer perfekt glatten Oberfläche verhelfen und dann die anderen Götter zum Kegeln einladen.
»Wenn es sein muss, dann gebe ich dem Gott eben meine Kegel«, sagte Huy. »Ich liebe meine Kegel wirklich, Mutter.« Er zerrte an dem Leinenbeutel in ihrer Hand. Itu ließ ihn ohne ein Wort los und ging aus dem Zimmer. Ebenso zufrieden wie schuldbewusst verstaute Huy die anderen Sachen wieder in der Truhe. Die sechs Kegel und den Ball stopfte er in den Beutel, den er auf dem Weg nach draußen bei der Tür ablegte.
Er war ein ziemlich verwöhntes Kind, der Augapfel der gesamten Familie. Trotz mehrfacher Bittgänge zum Tempel der Schwangerschaftsgöttin Tauret und zum Grab des mächtigen Imhotep, der, wenn er wollte, jedes Gebrechen heilen konnte, hatte seine Tante keine Kinder bekommen und schenkte nun ihre ganze Zuneigung dem kleinen Sohn ihres Schwagers. Huy verbrachte die Hälfte der Zeit auf dem großzügigen Anwesen, das seinem Onkel gehörte. Er zog es seinem Elternhaus vor, denn sein Onkel war ein berühmter Hersteller von Parfümen, die selbst der König trug, und folglich reich. Huys Vater Hapu hingegen versorgte nur die Pflanzen, die der Onkel und seine Bediensteten auf wundersame Weise zu den Ölen verarbeiteten, die die Mächtigsten der Welt bedufteten.
Huy liebte seine Eltern mit der selbstsüchtigen Gedankenlosigkeit eines kleinen Kindes aufs Innigste, auf dem Anwesen des Onkels gab es allerdings immer etwas Neues zu entdecken oder zu tun, und es war nie so langweilig wie des Öfteren in Hapus ruhigem Heim. Huy war intelligent und neugierig und betrachtete sich als
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