Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
lehrreichen Beobachtungen machen. Woher kommt es, daß Bauernkinder sich von Stadtkindern unterscheiden? Woher kommt es, daß Kinder der bessersituierten Klassen sich in der Regel von Kindern armer Leute in der Gesichts- wie der Körperbildung und in gewissen geistigen Eigenschaften unterscheiden? Es kommt von der Verschiedenartigkeit der Lebens- und Erziehungsbedingungen.
Die Einseitigkeit, die in der Ausbildung zu einem bestimmten Beruf liegt, drückt dem Menschen einen besonderen Charakter auf. In den meisten Fällen wird mit Leichtigkeit ein Pfarrer oder ein Schullehrer durch seine Haltung und seinen Gesichtsausdruck erkannt, ebenso ein Militär, auch wenn er im Zivilrock steckt. Ein Schuhmacher wird sehr leicht von einem Schneider, ein Tischler von einem Schlosser unterschieden. Zwei Zwillingsbrüder, die in der Jugend sich sehr ähnlich waren, werden im späteren Alter bedeutende Abweichungen zeigen, wenn die Berufsart eine ganz verschiedene ist; der eine harter Handarbeit, zum Beispiel als Schmied, der andere dem Studium der Philosophie oblag. Vererbung auf der einen, Anpassung auf der anderen Seite spielen in der menschlichen Entwicklung so gut wie im Tierreich eine entscheidende Rolle, und zwar ist der Mensch das bieg- und schmiegsamste aller Geschöpfe. Oft genügen wenige Jahre einer anderen Lebens- und Berufsweise, um aus einem Menschen einen anderen zu machen. Veränderungen im Äußeren treten nirgends auffallender hervor, als wenn ein Mensch aus ärmlichen und kleinen Verhältnissen in wesentlich bessere versetzt wird. Seine Vergangenheit wird er vielleicht am wenigsten in seiner Geisteskultur verleugnen; das liegt daran, daß die meisten Menschen über ein gewisses Alter hinaus kein Streben nach geistiger Weiterbildung empfinden und oft auch nicht nötig haben. Ein Emporkömmling hat unter diesem Fehler selten zu leiden. In unserer Zeit, die auf Geld und materielle Mittel sieht, beugt man sich weit bereitwilliger vor dem Manne mit großem Geldbeutel, als vor dem Manne von Wissen und großen Geistesgaben, namentlich wenn dieser das Unglück hat, arm zu sein und keinen Rang zu besitzen . Die Anbetung des goldenen Kalbes stand zu keiner Zeit höher als in unseren Tagen. Dafür leben wir "in der besten der Welten".
Das schlagendste Beispiel dafür, was grundverschiedene Lebensbedingungen und Erziehung aus dem Menschen machen, sehen wir in unseren Industriebezirken. Dort bilden schon äußerlich Arbeiter und Unternehmer einen solchen Gegensatz, als gehörten sie zwei verschiedenen Menschenrassen an. In einer fast erschreckenden Weise kam uns dieser Gegensatz anläßlich einer Wahlversammlung vor Augen, die im Winter 1877 in einer erzgebirgischen Industriestadt stattfand. Die Versammlung, in der ein Disput mit einem liberalen Professor stattfinden sollte, war so arrangiert, daß beide Parteien gleich stark vertreten waren. Den vorderen Teil des Saales hatten die Gegner eingenommen, fast ohne Ausnahme gesunde, kräftige, oft große Gestalten, im hinteren Teile des Saales und auf den Galerien standen die Arbeiter und Kleinbürger, zu neun Zehntel Weber, meist kleine, schmalbrüstige, bleichwangige Gestalten, denen Kummer und Not aus dem Gesicht sah. Die einen repräsentierten die satte Tugend und zahlungsfähige Moral der bürgerlichen Welt, die anderen die arbeitenden Bienen und Lasttiere, aus deren Arbeitsertrag die Herren so wohl aussahen. Man setze eine Generation unter gleich günstige Lebensbedingungen, und der Gegensatz wird bei der Mehrzahl verschwinden, er ist sicher bei ihren Nachkommen getilgt.
Im allgemeinen ist es bei den Frauen schwerer, ihre soziale Stellung festzustellen, als bei den Männern, sie finden sich mit großer Leichtigkeit in neue Verhältnisse und nehmen rasch höhere Lebensgewohnheiten an. Ihre Anpassungsfähigkeit ist größer als die des schwerfälligeren Mannes.
Was für die Pflanze guter Boden, Licht und Luft, sind für den Menschen gesunde soziale Verhältnisse, die ihm die Entfaltung seiner geistigen und körperlichen Anlagen gestatten. Der bekannte Satz: "Der Mensch ist, was er ißt", drückt etwas zu einseitig einen ähnlichen Gedanken aus. Es handelt sich nicht bloß um das, was der Mensch ißt, sondern um seine ganze Lebenshaltung, um das soziale Milieu, in dem er sich bewegt, das seine körperliche und geistige Entwicklung hemmt oder fördert, sein Fühlen, sein Denken, sein Handeln in günstigem oder ungünstigem Sinne beeinflußt. Wir sehen jeden
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