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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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eine rote Gießkanne trug und offenbar Blumen verkaufte.
    Man hatte ihm ausdrücklich gesagt:
Warte auf dem Bahnsteig
. Und um sich zu vergewissern, holte er aus der anderen Mantelinnentasche den Zettel hervor, auf dem er das E-Mail ausgedruckt hatte, und las die betreffende Stelle dreimal hintereinander.
Lieber Walter! Dass du schon morgen kommst, ist für uns nicht
– Zeilenumbruch. Auf dem nächsten Wort saß sein Daumen, der Nagel abgekaut bis aufs Fleisch.
    Zumindest hab ich nichts falsch gemacht, dachte er.
    Er stieg die Metallstufen hinunter auf den Bahnsteig. Auf festem Boden fühlte er sich sofort ein wenig sicherer. Als er merkte, dass er im Weg stand – entsetzlich hektische Menschen, die ihren Zug erwischen mussten, der schon wieder im Begriff war weiterzufahren –, ging er zu einer der Bänke auf dem Bahnsteig und ließ sich nieder. Sein Koffer lehnte sich an sein linkes Bein.
    Nein, es war niemand gekommen. Die Frau mit der Gießkanne hielt ihre Hand auf und ein junger Mann zählte Münzen hinein. Eine der langstieligen Blumen, die in der Gießkanne steckten, hatte einen großen, feucht und schwer herabhängenden Kopf mit einer weit aufklaffenden Blüte. Sie sah aus wie eine gähnende Schlange.
    Walter wandte den Blick den Menschen zu, die mit seinem Zug weiterfahren würden, vermutlich die ganze Nacht, in weit entfernte Städte. Der Zug ließ sich noch etwas Zeit zum Verschnaufen, sein großes schwarzes Haupt in der Tränke am Ende des Bahnsteigs. Walters Blick glitt über die Menschen hin, die meisten waren nicht besonders interessant, bis er ein Pärchen entdeckte, das gerade Abschied voneinander nahm. Die Frau stand hinter dem Fenster im Zugabteil und der Mann an der schmutzig-gelben Begrenzungslinie am Bahnsteig. Die Leute mussten ihm ausweichen, mit ihren Koffern und Kindern und allem, was man sonst noch im Leben hinter sich herziehen musste. Doch das Paar bekam vom regen Verkehr ringsum nur wenig mit, beide sprachen miteinander in ihre Mobiltelefone. Der Anblick erinnerte ein wenig an Gefängnisbesuche aus amerikanischen Filmen. Und dann kam unvermittelt der Moment, da sie beide auflegen mussten, aus irgendeinem Grund, und die Frau begann ihr Gepäck im Abteil zu verstauen. Sie sah nichtmehr aus dem Fenster, eine Strähne fiel ihr ins Gesicht und sie wischte sie weg, und ihre Reise und ihr Fortsein begannen in diesem Augenblick vor den Augen des Mannes, der weiter in das Abteil starrte wie ein Fensterputzer in ein Büro voller rätselhafter Vorgänge. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und klopfte an die Scheibe.
    Walter musste lächeln.
    Und da war sie wieder, das bekannte, vertraute Gesicht. Die Frau im Abteil sah zu dem Mann nach draußen und winkte, als wollte sie sagen:
Ja, ich seh dich schon
. Eine blecherne Lautsprecherdurchsage verkündete das Urteil. In diesem Moment setzte sich der Zug in Bewegung, schwerfällig, schleppend, wie ein Trauerkondukt.
    Walter erhob sich und trottete davon.
    Er trat aus dem Bahnhofsgebäude, hinein in den Nieselregen. Er umrundete ein paar merkwürdig geformte Mülltonnen im Eingangsbereich. Auch hier war niemand zu sehen.
    Im Schutz eines schmalen Vordachs ging er um die Ecke. Über die Windschutzscheiben der Autos lief Wasser. Neben dem Bahnhof war ein kleines Kino, kein heruntergekommenes Pornokino wie in der Stadt, aus der er gerade gekommen war, mit sirenenhaft quietschenden Eingangstüren und wundgescheuerten Wänden, sondern eines, das sich auf Filmklassiker spezialisiert hatte. Überall hingen abgerissene Kinoplakate, die stellenweise mit der Mauer verschmolzen waren.
Vertigo
.
Metropolis
.
    Walter hatte den Eindruck, dass ihm jemand folgte. Als er sich umblickte, bemerkte er Tropfen auf seiner Schulter. Seine rechte Wange fühlte sich merkwürdig an, als befände sich der eigentliche Blickwinkel seiner Augen dort.
    Er stolperte.
    Als er sich bückte, um zu sehen, was da im Weg gelegenwar, sah er nichts, nur den regennassen Asphalt. Walter suchte sein Handy in der Manteltasche. Seine Finger streiften das Ticket.
Einfach
, nicht
hin und zurück
. Er würde eine Weile hier bleiben.
    Er wog das kleine Telefon in seiner Hand. Er überlegte, ob es sich lohnte, jemanden von seiner Familie anzurufen. Aber seit er die sonderbare SMS-Nachricht bekommen hatte, machte ihm das Handy Angst, und er hätte es am liebsten auf dem Asphalt zertrümmert.
Das ist das Ende
, stand in der anonymen Nachricht, die irgendwo im Nervensystem des kleinen Apparats

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