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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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schauderte mich bei der Vorstellung, dass die Welt für dieses einsame Kind für kurze Zeit in Ordnung gewesen wäre, wenn ich in diesem Augenblick einfach umgefallen wäre, nur für diesen sehr kurzen, kostbaren Moment. Und natürlich wäre das alles andere als schwer gewesen, ein kleiner Hechtsprung in den Schnee,
Ah, ich bin tot
! Aber aus irgendeinem Grund verweigerte ich ihm, was ich den alten Männern bei meiner Arbeit manchmal gewährte, kleine Proben meiner Schauspielkunst.
    Jetzt, im Sommer, verbringt er ganze Nachmittage dort unten. Ich kann ihn stundenlang vom Fenster aus betrachten. Aus den lallenden Rufen seiner Mutter, die oft mit einem großen Glas Wasser, in dem sich tanzend eine Tablette auflöst, auf dem Balkon steht, schließe ich, dass er Gerald heißt. Gerald Katzek. Er dürfte um die sieben oder acht sein, vielleicht auch älter.
    Die Leute halten mich bestimmt für wahnsinnig, wenn sie mich hier sehen, in meiner Wohnung, eine unbewegliche Silhouette, die nachts in ihre Fenster starrt. Ich stehe da und versuche nicht zu blinzeln. Wenn irgendwo eine Jalousie heruntergeht, habe ich das Spiel gewonnen.
    Vor zwei Tagen stand ein Möbelwagen vor dem Haus. Zwei kräftige Männer, von denen einer Schweißflecken von den Achseln bis hinunter zum Gürtel hatte, trugen einen Kühlschrank aus dem Haus, ein großes, klobiges Ding, das sich sehr genierte, keine antike Standuhr oder eine geheimnisvolle Ritterrüstung zu sein.
    Wie lange steht dieses Haus noch? Hundert Jahre. Zweihundert, höchstens. Dann kommen Bulldozer, vermutlich ferngesteuert, und räumen die Mauern fort, reißen die Zwischendecken ein, schaufeln alles auf die Seite, die Ziegel, die Holzrahmen der Fenster, die Türen, und ganz oben, auf der Spitze der Staub- und Gerölllawine, die der Bulldozer vor sich herschiebt wie der Mistkäfer seinen großen, roten Sisyphosball, sitzt ein einzelnes Stofftier, unklar, welcher Spezies, da es nur mehr wenige überlebenstüchtige Vogelgattungen und menschengroße Ratten gibt, die in den ausgestorbenen Villenvierteln der Städte hausen und auf einen brillanten Einfall der Evolution warten. Und hie und da sieht man noch Eidechsen, die frech auf der Fassade eines Bankgebäudes oder einer ehemaligen Grundschule in den Todesstrahlen der verrückt gewordenen Sonne sitzen. Irgendwann kommen größere Bulldozer und räumen die alten Bulldozer aus dem Weg, mit größeren und kräftigeren Kiefern. Dann auf einmal gibt es keine Bulldozer mehr, nur noch ausgeschlachtete Geräte, graue Skelette von Fahrzeugen. Industrieruinen wie Korallenriffe, mitten in der Wüste. In manchen Oasen wächst noch Gras, Erinnerungen an frühere Zeiten. Dann ist alles nur mehr eine weite, staubige Marslandschaft. Gesteinsformationen wie Puzzlespiele für zukünftige Intelligenzen, die an kosmischer Schlaflosigkeit leiden und deshalb fremde Planetenoberflächen zu lösen versuchen. Hin und wieder hallt ihr erregtes
Heureka
durch den leeren Weltraum.
    Im Fenster gegenüber geht das Licht an. Ein Schatten, undefinierbar in Geschlecht und Alter, huscht vorüber. Eine Küche. Menschen am Herd. Essen kochen, Tiere füttern, Uhren reparieren. Wasserfälle hinunterrudern, johlend.
Kein Wesen will zu Nichts zerfallen
.
    Ich sollte wieder mehr vor die Tür gehen. Ich sollte Valerie öfter sehen.
    Die Qualität oder der Charme eines Kunstwerks zeigt sich mitunter darin, ob es sich in unserer Erinnerung selbstständig verwandelt. Wie viele Leute erinnern sich beispielsweise an einen Tropfen, der aus einer der zerfließenden Uhren von Dalí quillt, ohne dass ein solcher Tropfen auf dem Bild tatsächlich zu sehen wäre. Andere erzählen von einer Beute, die Breughels Jäger im Schnee ins Tal tragen, aber auch sie ist eine Ergänzung unserer Erinnerung. Oft geht das Gedächtnis einen Schritt weiter als die Kunst. Es gibt keine Schlange um Laokoons Hals. In Munchs
Schrei
ist rechts im Bild keine große, blutunterlaufene Sonne zu sehen, die sterbend über der Landschaft hängt.
    Und dennoch könnte ich schwören: Valerie trägt eine Taufkette aus Weißgold um ihren hübschen Hals.

Der Garten der Fasane
    Eine Lautsprecherdurchsage ertönte. Die metallisch nuschelnde Damenstimme sprach die Ortsnamen falsch aus. Walter lächelte und fühlte sich schon ein wenig zuhause, obwohl ihn niemand abholen gekommen war. Seine Abreise war immerhin sehr kurzfristig gewesen.
    –
… weiterer Anschusszug nach

    Anschuss?
    Walter hatte eine große Schwäche für

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