Die Frequenzen
bleiben sie stehen, in der Dunkelheit, sich unsichtbar wähnend, und sehen herüber, neugierig und vielleicht ein wenig sehnsüchtig zu erfahren, wer sie da beobachtet.
Bei Menschen, die abends unten auf der Straße gehen, ist es einfacher. Sie bemerken nicht, dass sie beobachtet werden, und man kann sie wie auf Kommando dazu bringen stehen zu bleiben.
Da ist eine Frau, die schwere Einkaufstaschen trägt. Da sind zwei Jugendliche, die ineinander schwanken, weil sie betrunken sind. Da ist ein alter Mann, der mit seinem Stock den Asphalt stempelt. Und da ist ein schwarzer Hund, der einsam durch die Gegend streunt. Niemand scheint sich um ihn zu kümmern.
Der Trick ist ganz einfach. Man hebt eine Hand, als wollte man ungläubig die Fensterscheibe berühren oderden Menschen auf der Straße einen Segensgruß spenden. Man sucht sich einen unter ihnen aus. Der alte Mann mit dem Stock. Man konzentriert sich auf seinen Nacken. Bekanntlich ist der Nacken der empfindlichste Teil des Körpers, die Haut im Nacken spürt sogar die Stimmung dessen, der einen von hinten anstarrt. Man zählt im Geiste von fünf rückwärts bis null. Bei null ballt man die Hand zu einer Faust und schickt ihm das Kommando BLEIB STEHEN, so entschlossen wie möglich. Man muss es ihm regelrecht in den Nacken hämmern.
Es funktioniert nicht immer. Von zwanzig Versuchen gelingt vielleicht einer. Diesmal bleibt der alte Mann nur kurz stehen, um seinen Schirm, der gerade noch ein Stock gewesen ist, auszuschütteln, und geht dann wieder weiter. Er hat andere Dinge zu tun als auf die Empfindungen in seinem Nacken zu hören.
Der Hund ist längst außer Sichtweite.
Es ist jetzt so hell, dass man bis zum Einkaufszentrum sehen kann. Der alte Mann wandert langsam daran vorbei.
Auftritt eines Obdachlosen, man erkennt es von weitem an den vier Lagen Kleidung, die er übereinander trägt. Er kratzt sich am Hals, sieht nach links und rechts, ob ihm jemand zusieht (aber ja), dann zieht er sich die Hose herunter und hockt sich auf das kleine Spielzeug-Raumschiff, in dem man für einen Euro sein Kind durchschaukeln lassen kann.
Seit wenigen Stunden ist es Montag, der letzte Tag der Woche. Meine Woche begann bisher immer mit dem Dienstag. Der Dienstag ist ein alter Mann mit Blumen am Hut, sehr gelb im Gesicht, und seine Augen sind fast nur Zwinkern. Das Gelb erinnert an die Farbe von giftigem Weizen, eine albtraumhafte Schattierung von dunklemGold. Der Mittwoch hat die seltsamste Farbe, wahrscheinlich, weil er als einziger Tag der Woche nicht auf die helle Silbe
-tag
endet. Er ist gesprenkelt, ein wenig wie ein Wollknäuel aus verschiedenfarbigen Fäden. Der Donnerstag ist majestätisch und rein, seine Farbe ist ein helles Silber, das irgendwie mit dem Tastgefühl der Fingerspitzen verwandt ist. Der Freitag ist entschieden grün, aber sonst fehlt es ihm an Charakter, er ist das fünfte Rad am Wagen, er übertritt gewissermaßen eine Symmetrie. Der Samstag ist dunkel, fast braun, manchmal auch schwarz, aber es ist ein schönes Schwarz, die Farbe eines Wundschorfs, kurz bevor er sich löst und neu gewachsene rosa Haut freigibt. Der Sonntag schließlich ist dunkelblau, aber trotzdem hat er etwas von einem Stück Schokolade, in das man beißen möchte. Der Montag kommt in meiner Aufzählung deshalb als letzter, weil er der hässlichste Tag der Woche ist und den ersten Platz nicht verdient hat, er ist rot und nackt, wie ein Stück Fleisch.
Das ist die Woche des Synästheten Alexander Kerfuchs.
Die letzten zwei Wochen im Altersheim werden noch so verlaufen, mit den heillosen Überforderungen des Montagmorgens und den verklingenden Stressakkorden des Freitagnachmittags.
Der Kaffee ist zu kalt, wollen Sie mich vergiften? Mir ist da ein Malheur passiert, schon wieder. Ich muss einen Brief schreiben, helfen Sie mir. Und die gute alte Zeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Alles geht den Bach runter, allen voran der Bach selbst
. Noch zwei Wochen Pflegedienst, aufräumen, putzen, Betten beziehen, Unterhaltungen austeilen, Kaffee servieren, unter den Heizkörper gepurzelte Schachfiguren aufsammeln. In meinem Kalender häufen sich kleine Smileygesichter, die die überstandenen Tage markieren. Für den Samstag amEnde der Zeit habe ich einen glücklichen, breit grinsenden Vogel mit Fliegerhelm gezeichnet.
Ich habe den Heimbewohnern versprechen müssen, ihnen meine Telefonnummer zu hinterlassen. Es ruft sie ja sonst niemand an. Die meisten verstehen überhaupt nicht,
Weitere Kostenlose Bücher