Die Freude am Leben
Kutscher, ein alter Mann mit einem Holzbein, ein ehemaliger Matrose, der einst von dem Marinearzt Cazenove operiert worden und später in seinen Diensten geblieben war, band gerade das Pferd an. Frau Chanteau unterbrach sich, um ihm zu sagen:
»Martin, helfen Sie doch der Kleinen beim Aussteigen.«
Niemand hatte bis jetzt an das Kind gedacht. Da das Wagenverdeck sehr tief herunterreichte, sah man nur seinen Trauerrock und seine kleinen Hände in den schwarzen Handschuhen. Übrigens wartete sie nicht, daß der Kutscher ihr half, sondern sprang auch leichtfüßig heraus. Bei einem Windstoß flatterten ihre Kleider und wirbelten die braunen Locken unter dem Trauerflor ihres Hutes auf. Und sie sah sehr kräftig aus für ihre zehn Jahre, mit ihren aufgeworfenen Lippen, ihrem vollen Gesicht, das weiß war wie bei allen kleinen Mädchen, die in den Pariser Ladenstuben aufwachsen. Alle schauten sie an. Véronique, die ihre Herrin begrüßen kam, war mit eisigem, eifersüchtigem Gesicht abseits stehengeblieben. Doch Mathieu nahm sich an dieser Zurückhaltung kein Beispiel, er stürzte dem Kind in die Arme und fuhr ihm mit der Zunge übers Gesicht.
»Hab keine Angst!« rief Frau Chanteau. »Er beißt nicht.«
»Oh, ich habe keine Angst!« erwiderte Pauline sanft. »Ich habe Hunde gern.«
Tatsächlich verhielt sie sich ganz ruhig bei Mathieus ungestümen Liebkosungen. Ihr ernstes Gesichtchen wurde trotz ihrer Trauer von einem Lächeln erhellt; dann drückte sie dem Neufundländer einen dicken Kuß auf die Schnauze.
»Und die Leute, küßt du die nicht?« begann Frau Chanteau wieder. »Hier, dies ist dein Onkel, denn zu mir sagst du ja Tante ... Und hier ist also dein Cousin, ein großer Schlingel, der nicht so artig ist wie du.«
Das Mädchen empfand keinerlei Scheu. Es umarmte alle, es fand mit der Anmut einer in Höflichkeiten schon geübten kleinen Pariserin für jeden ein Wort.
»Onkel, ich danke Euch sehr, daß Ihr mich bei Euch aufnehmt ... Ihr weidet sehen, lieber Cousin, wir beide werden gut miteinander auskommen ...«
»Sie ist ja ganz reizend!« rief Chanteau entzückt aus.
Lazare sah sie überrascht an, denn er hatte sie sich kleiner vorgestellt, schüchtern und albern, wie nun einmal kleine Mädchen sind.
»Ja, ja, ganz reizend«, wiederholte die alte Dame. »Und tapfer, ihr habt keine Vorstellung! Im Wagen bekamen wir den Wind von vorn, und wir konnten kaum sehen bei dem sprühenden Regen. Das Verdeck krachte wie ein Segel, und zwanzigmal glaubte ich, es würde auseinanderreißen. Und sie, sie hatte ihren Spaß daran, sie fand das komisch ... Aber was stehen wir hier herum? Es ist ja nicht nötig, daß wir noch nasser werden, es fängt schon wieder an zu regnen.«
Sie drehte sich um und suchte Véronique. Als sie sie mit mürrischer Miene abseits stehen sah, sagte sie spöttisch zu ihr:
»Guten Tag, liebes Kind, wie geht es dir? Bis du dich entschließt, dich nach meinem Befinden zu erkundigen, kannst du eine Flasche für Martin heraufholen, nicht wahr? Wir haben unsere Koffer nicht mitnehmen können, Malivoire wird sie morgen früh bringen ...«
Sie unterbrach sich, kehrte verstört zum Wagen zurück.
»Und meine Tasche! – Habe ich einen Schreck bekommen! Ich fürchtete schon, sie sei unterwegs aus dem Wagen gefallen.«
Es war eine dicke schwarze Ledertasche, die vom häufigen Gebrauch an den Ecken bereits abgestoßen war und die sie unter keinen Umständen ihrem Sohn anvertrauen wollte. Schließlich gingen alle auf das Haus zu, als ein erneuter Windstoß ihnen den Atem benahm und sie vor der Tür aufhielt. Die Katze, die mit neugieriger Miene dasaß, sah ihnen zu, wie sie gegen den Wind kämpften; und Frau Chanteau wollte wissen, ob Minouche sich während ihrer Abwesenheit gut betragen habe. Beim Namen Minouche spielte wieder ein Lächeln um Paulines ernsten Mund ... Sie bückte sich und streichelte die Katze, die sich sogleich mit erhobenem Schwanz an ihrem Rock rieb. Mathieu hatte wieder heftig zu bellen begonnen, um die Rückkehr an den heimischen Herd zu melden, als er sah, daß die Familie die Freitreppe hinaufging und endlich in der Diele Schutz suchte.
»Ach, hier fühlt man sich wohl!« sagte die Mutter. »Ich glaubte schon, wir würden niemals ankommen ... Ja, Mathieu, du bist ein guter Hund, aber laß uns in Ruhe. Oh, ich bitte dich, Lazare, bring ihn zum Schweigen; er zerreißt mir die Ohren!«
Der Hund bellte beharrlich weiter, und unter dieser laut schallenden Freudenmusik gingen
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