Die Freude am Leben
die Chanteaus ins Eßzimmer. Vor sich her schoben sie Pauline, das neue Kind des Hauses; und hinterdrein kam Mathieu, der immer noch bellte und dem Minouche folgte, deren feinnerviges Fell bei diesem Spektakel zitterte.
In der Küche hatte Martin schon zwei Glas Wein rasch nacheinander getrunken; er wünschte allen einen guten Abend und ging, mit seinem Holzbein auf den Fliesenboden aufstapfend, davon.
Véronique hatte ihre Hammelkeule, die kalt geworden war, wieder ans Feuer geschoben. Sie erschien und fragte:
»Wird jetzt gegessen?«
»Ich glaube wohl, es ist sieben Uhr«, sagte Chanteau. »Wir müßten nur warten, Véronique, bis meine Frau und die Kleine sich umgezogen haben.«
»Aber ich habe Paulines Koffer noch nicht«, bemerkte Frau Chanteau. »Glücklicherweise sind wir unter dem Mantel nicht naß geworden ... Zieh den Mantel aus und nimm den Hut ab, mein Herzchen. Hilf ihr doch aus den Sachen, Véronique ... Und zieh ihr die Schuhe aus, nicht wahr? Ich habe hier, was wir brauchen.«
Das Hausmädchen mußte vor dem Kind, das sich hingesetzt hatte, niederknien. Währenddessen holte die alte Dame aus ihrer Tasche ein Paar kleine Filzschuhe hervor, die sie Pauline selber anzog. Dann ließ auch sie sich die Schuhe ausziehen und kramte von neuem tief in der Tasche, aus der sie ein Paar Pantoffeln für sich herauszog.
»Dann kann ich also auftragen?« fragte abermals Véronique.
»Gleich ... Pauline, komm, wasch dir in der Küche die Hände und auch das Gesicht ein bißchen ... Wir verhungern ja schon, später machen wir uns gründlich sauber.«
Pauline erschien als erste wieder, während ihre Tante noch in der Küche blieb und ihre Nase in eine Schüssel steckte. Chanteau hatte sich wieder an den Kamin, tief in seinen großen, gelbsamtenen Sessel gesetzt, und mit einer mechanischen Bewegung rieb er sich in der Angst vor einem nahe bevorstehenden Anfall die Beine, während Lazare am Tisch stand und das Brot aufschnitt. Der Tisch war seit mehr als einer Stunde für vier Personen gedeckt. Die beiden Männer, die ein wenig verlegen waren, lächelten dem Kinde zu, ohne daß ihnen ein Wort einfiel. Pauline sah sich seelenruhig das mit Nußbaummöbeln ausgestattete Zimmer an, ließ die Blicke von der Anrichte und dem halben Dutzend Stühlen zur Hängelampe aus Messing schweifen, wurde aufgehalten vor allem durch fünf gerahmte Lithographien, die Jahreszeiten und einen Blick auf den Vesuv, die sich von der kastanienbraunen Tapete abhoben. Zweifellos ließen sie die von kreidigen Schrammen zerkratzte falsche Täfelung aus gemaltem Eichenholz, das mit alten Fettflecken beschmutzte Parkett, der vernachlässigte Zustand dieses Wohnzimmers, in dem die Familie lebte, Heimweh nach der schönen, in Marmor gehaltenen Fleischerei empfinden, die sie am Abend zuvor verlassen hatte, denn ihre Augen wurden traurig, sie schien einen Augenblick lang die heimliche Verbitterung zu erahnen, die sich unter der Gutmütigkeit dieser für sie neuen Umgebung verbarg. Schließlich blieben ihre Blicke, nachdem sie sich für ein sehr altes Barometer in einem goldbemalten Holzgehäuse interessiert hatten, an einem sonderbaren Gebilde haften, das in einem an den Kanten mit schmalen blauen Papierstreifen beklebten Glaskasten das ganze Kaminsims einnahm. Man hätte es für ein Spielzeug halten können, eine hölzerne Miniaturbrücke, doch eine Brücke mit außerordentlich kompliziertem Zimmerwerk.
»Das hat dein Großonkel gemacht«, erklärte Chanteau, glücklich, einen Gesprächsstoff zu finden. »Ja, mein Vater hat als Zimmermann begonnen ... Ich habe sein Meisterstück immer aufbewahrt.«
Er errötete nicht ob seiner Herkunft, und Frau Chanteau duldete die Brücke auf dem Kamin, obgleich diese platzraubende Kuriosität sie verdroß, weil sie dadurch an ihre Verbindung mit einem Handwerkerssohn erinnert wurde. Aber schon hörte Pauline ihrem Onkel nicht mehr zu: durch das Fenster hatte sie soeben den unermeßlich weiten Horizont erblickt, und rasch durchquerte sie das Zimmer und stellte sich an die Fenster, deren Musselinvorhänge mit baumwollenen Vorhanghaltern gerafft wurden. Seit ihrer Abreise aus Paris beschäftigte sie das Meer unausgesetzt. Sie träumte davon, sie fragte im Zug unaufhörlich ihre Tante und wollte bei jedem Hügel wissen, ob nicht hinter diesen Bergen das Meer sei. Am Strand von Arromanches war sie stumm und mit großen Augen stehengeblieben, und ihr entrang sich ein tiefer Seufzer; von Arromanches bis Bonneville
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